Im Reich der Löwin
höre – noch ein anderes vielversprechendes Talent besitzt.« Mit diesen Worten war das Thema für ihn erledigt, und er wandte sich wieder seinem Lager zu, um sich schwer in die strohgestopften Kissen sinken zu lassen.
****
Im Korridor, vor der leicht angelehnten Tür des königlichen Gemaches, verkniff sich Humphrey Marshal nur mit Mühe einen wüsten Fluch. Nach dem eben belauschten Gespräch schien es, als sei all sein Streben, den verhassten Roland bei Richard Löwenherz in Misskredit zu bringen, vergebens gewesen. Umsonst hatte er ihn immer wieder in Prügeleien mit anderen Knappen verstrickt, nur um rein zufällig den König von den Rangeleien in Kenntnis zu setzen. Vergeblich hatte er Löwenherz alle Wünsche von den Lippen abgelesen, sich krumm und buckelig geschuftet, dass Sattel und Zaumzeug des prächtigen Schlachtrosses stets in vollem Glanz erstrahlten! Und ebenfalls zerschlagen schien die Hoffnung des Knaben, noch vor Roland in den Ritterstand erhoben zu werden. Nicht nur stach ihn der ein Jahr Ältere stets im Übungskampf mit Lanze und Schwert aus, jetzt würde er auch noch vom besten und am meisten gefürchteten Krieger Englands die Kunst des Kämpfens lernen! Wenn er nicht völlig den Anschluss verlieren wollte, dann musste sich Humphrey schleunigst etwas einfallen lassen, wie er dem König beweisen konnte, dass er weitaus würdiger war, von ihm ausgebildet zu werden als dieser Weichling!
Frankreich, ein kleiner Landsitz in der Grafschaft Anjou, 15. Mai 1194
»Bitte«, flehte die schlanke, in zerschlissene Gewänder gehüllte Gestalt erneut. Der harte Griff der Wache, die dem Reiter den Zugang zu dem kleinen Landsitz in der Nähe der Grenze zur Touraine versperrte, verstärkte sich, als der unangemeldete Besucher sich loszumachen versuchte. »Ich bin vier Tage und Nächte geritten, um Eurer Herrin eine Nachricht zu überbringen«, drängte die Gestalt nachdrücklich. »Ihr müsst mich zu ihr lassen!« Der Wachmann schnaubte. Er beäugte erneut den schäbigen Aufzug des neben seinem minderwertigen Gaul lächerlich klein wirkenden Ankömmlings und hob die Linke, woraufhin Jeanne de Touraine erschrocken zusammenzuckte. Ihr sonst so feines Gesicht war verschmutzt vom Staub der Straße, und die unter Coiffe und Kapuze versteckten Locken bedurften dringend einer Wäsche. Eigentlich hatte es ihr ganzer Körper nötig, endlich wieder mit Wasser in Kontakt zu kommen. Doch den Luxus eines Bades hatte sie sich in den vergangenen Tagen nicht leisten können. »Bitte gebt Ihr das hier«, seufzte sie, als der Mann Anstalten machte, sie von sich zu stoßen und in den Torturm zurückzukehren. Sie zog ein silbernes Kettchen mit einem tulpenförmigen Anhänger aus den Falten ihres Umhangs. »Wenn sie mich dann nicht sehen möchte, dann sollt Ihr keinen Ärger mit mir haben.«
Obwohl er sich bei diesem Versprechen ein verächtliches Knurren verkneifen musste, nahm der Mann das Schmuckstück entgegen und drückte es einem Pagen in die Hand, den er mit einem Pfiff herbeirief. Die scheinbare Ewigkeit, die der Knabe benötigte, um den Wartenden die Reaktion der Dame des Hauses zu überbringen, verbrachte der beinahe quadratisch gebaute Soldat damit, die junge Frau von Kopf bis Fuß anzustarren und seine Schultergelenke knacken zu lassen. In seinem breiten, großflächigen Gesicht prangte eine scharf geschnittene Nase, aus deren Löchern dicke schwarze Haare sprossen. Die Hand, die drohend auf dem Knauf seines Schwertes lag, war rau und rissig. Und die wässrigen Augen, mit denen er jeden Quadratzoll von Jeannes Körper abtastete, ließen erkennen, dass er nicht lange fackeln würde, wenn es darum ging, sich zu seinem Recht zu verhelfen. Als sich der Page endlich wieder näherte, rutschte dem Mädchen vor Erleichterung beinahe das Herz in die Beinlinge. »Ihr sollt sofort in den Palas kommen«, teilte der Junge ihr mit einem neugierigen Blick mit. »Ich bringe Euer Pferd in den Stall.« Auch die Miene des Torwächters zeigte unverhohlene Überraschung, als die junge Frau hocherhobenen Hauptes an ihm vorbeistakste und den steilen Weg in den Innenhof erklomm. Trotz der abweisenden Außenmauer wirkte der eigentliche Wohnteil der bescheidenen Festung einladend und heimelig, da sich selbst um den windschiefen Eingang zum Gesindetrakt ein farbenfrohes Band aus Kletterrosen und Wicken wand, um deren Blüten vereinzelte Bienen summten. Ein kleines Stallgebäude schmiegte sich an die Nordwand der Halle, deren
Weitere Kostenlose Bücher