Im Reich der Löwin
gerötetes Gesicht beinahe komisch in die Länge zog. »Wie meinst du das?«, erkundigte sich sein Bruder neugierig, was Henry dazu veranlasste, aufgeregt herauszuplatzen: »Der Steward hat mir berichtet, dass sie ihrem Gemahl vor einigen Wochen davongelaufen ist und dass man sich erzählt, sie habe bei ihrer Großtante – Richards Mutter – in der Abtei Fontevrault Zuflucht gefunden!« Achselzuckend ergriff Roland den Arm des Jüngeren und führte ihn auf den Palas zu, in dem es noch einiges für ihn zu tun gab. »Der Graf ist mit Philipp von Frankreich im Norden«, fügte Henry – stolz auf die Neuigkeiten, die er in Erfahrung gebracht hatte – hinzu und grinste schadenfroh. Als sie die Eingangshalle betraten, wäre er beinahe mit Roland zusammengestoßen. Dieser war beim Anblick der Miniatur über der Feuerstelle, die eine wunderschöne junge Frau mit kastanienfarbenen Locken darstellte, abrupt stehen geblieben. »Mein Gott«, hauchte der Ältere und starrte die Erscheinung mit weit aufgerissenen Augen an. »Wie schön sie ist!« Henry, der neben ihn getreten war, hob gleichgültig die Schultern. »Wenn du meinst«, beschied er knapp. »Das ist jedenfalls die flüchtige Braut.«
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In dem unter der Hauptburg gelegenen Stallgebäude ruhte ebenfalls ein Augenpaar gebannt auf einer Stelle. Allerdings bot sich dem Blick des Betrachtenden keine sanfte Schönheit dar, sondern die pralle Hinterhand eines Apfelschimmels. Während der brennende Knoten des Zorns in Humphreys Magen sich immer mehr verdichtete, zog der Junge nach einem letzten Kontrollblick über die Schulter den langen Dolch aus der Scheide an seinem Gürtel. Dann steckte er sich die kühle Klinge zwischen die Zähne und hievte Rolands Sattel von dem hölzernen Bock, auf dem er ihn abgelegt hatte. Mit geübten Bewegungen klappte er die äußeren Lappen zurück, fand den Ansatz des breiten Gurtes und setzte das Messer an. Alle Welt schien ihn für einen Versager und Nichtsnutz zu halten! Das würde sich blitzartig ändern, wenn der verhasste Nebenbuhler sich beim Sturz vom Pferd ernsthaft verletzte oder sogar den Hals brach! Mit einem kalten Lächeln auf den Lippen begann er, das dicke Leder einzuschneiden.
Speyer, Anfang Juli 1194
»Er wird uns niemals gehen lassen!« Verzweifelt folgte Wilhelms Blick dem Zug der Wolken, die von einem stürmischen Nordwind über den Gewitterhimmel getrieben wurden. Die schmalen Schultern des Knaben waren eingezogen, und der von einem wirren Blondschopf bedeckte Kopf wirkte zu schwer für den schlanken Hals. Nervös kneteten die Finger des Jungen den feinen Stoff seines Übergewandes. Während seine Augen langsam nach Süden wanderten, entrang sich der Kehle des Prinzen ein schwerer Seufzer, der beinahe wie ein Schluchzen klang. Vor beinahe einem Monat war der deutsche Kaiser gemeinsam mit seiner Gemahlin nach Italien aufgebrochen, um seine Macht in Reichsitalien – dem Teil nördlich des Kirchenstaates – zu konsolidieren und einen Feldzug gegen Sizilien zu unternehmen, das aus seiner Sicht unrechtmäßig von dem minderjährigen Sohn des verstorbenen Tankred regiert wurde. Doch an der Lage der beiden Geiseln hatte sich nach wie vor nichts geändert. »Warum sind wir noch hier?« Die Stimme des jungen Welfen zitterte leicht, als er mit einem zornigen Funkeln in den Augen zu seinem älteren Bruder herumwirbelte, der sich mit dem breiten Rücken gegen die von einem Wandbehang bedeckten Steinquader der Kammer gelehnt hatte.
»Reg dich nicht so auf«, beschwichtigte Otto ihn. Seit ihn die siebzehnjährige Base des Kaisers – ohne dessen Wissen – Nacht für Nacht in ihr Schlafgemach ließ, schien es der kriegerische Neffe von Richard Löwenherz nicht mehr ganz so eilig zu haben, den Hof in Speyer zu verlassen. »Früher oder später werden ihm die Ausflüchte ausgehen«, setzte er hinzu und biss herzhaft in eine der zuckersüßen Erdbeeren, die sich in einer Schale auf dem Tischchen in der Mitte des Raumes türmten. Während er die Frucht genüsslich kaute und den roten Saft von den Fingerspitzen leckte, musste er unvermittelt schmunzeln. Denn er dachte an den beinahe komischen Gegensatz, den die Bedeutung der Staude als Symbol für Demut und Bescheidenheit zu dem bildete, was er am vergangenen Abend mit ihr angestellt hatte. Die Kleine war aber auch wirklich ein Genuss – mit oder ohne Erdbeeren! Er lachte leise, was Wilhelm missfällig die Brauen heben ließ. »Du solltest die Sache ein wenig ernster
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