Im Reich der Löwin
nehmen!«, schalt der Jüngere mürrisch. »Ich dachte, du wolltest den englischen König auf seinem Feldzug begleiten.«
Huntingdon, Anfang Juli 1194
»Wie konnte das passieren?« Halb hysterisch vor Entsetzen presste Catherine of Leicester ihren heulenden Sohn, über dessen Unterarm ein feuerrotes Brandmal lief, an die Brust, um ihm den Kopf zu streicheln. Herbeigelockt von dem Gebrüll des Kindes, war sie in den Hof geeilt, nur um den Knaben neben dem ersterbenden Feuer des Hufschmiedes mit einer Verletzung vorzufinden, die mit Sicherheit eine hässliche Narbe hinterlassen würde. Ein Teil der Haut war aufgeplatzt, und die Ränder der blutenden Wunde waren schmutzig von Ruß und Staub. »Nicht weinen, William«, flüsterte sie ihm ins Ohr, während sie in die kleine Kammer neben der Küche eilte, in der die Salben, Tränke und Verbände aufbewahrt wurden. Lange Regale liefen rings um den Raum, in dem es immer ein wenig ätherisch roch. Irdene Gefäße mit getrockneten Kräutern wechselten sich ab mit Tiegeln und Töpfen, deren Inhalt Catherine nicht kannte. Aber im Augenblick interessierte sie einzig und allein ein kleiner, aus Rosenholz geschnitzter Schrank, der etwa auf halber Höhe mit Haken an der Wand befestigt war, und dessen Schlüssel an ihrem Gürtel hing. »Clarice«, brüllte sie ungehalten. »Wo steckst du?« Mit der Linken drückte sie den Jungen fester an sich – bemüht, den verletzten Arm nicht zu berühren – während sie mit der Rechten das kleine Schränkchen aufschloss und es mit fahrigen Händen durchstöberte.
Kaum war ihr Ruf verhallt, kam die junge Amme durch die hintere der beiden Türen in den Raum geeilt – Williams Schwester Aliénor im Schlepptau. Ihre linke Brust blitzte noch über den tiefen Ausschnitt des dunkelbraunen Bliauds , und es war ihr anzusehen, dass der Schreck ihr tief in die Glieder gefahren war. Unter einer kleinen weißen Haube ringelten sich einige Strähnen um ihre Ohren, und die Sommersprossen auf ihrer alabasterfarbenen Haut wirkten scharf umrissen. Die Augen der jungen Bauerstochter waren so weit aufgerissen, dass sie beinahe rund erschienen, und ihr etwas zu breiter Mund öffnete sich fassungslos, als sie den verletzten Knaben erblickte. »Was ist mit ihm?« Erschrocken trat sie neben ihre Herrin, die alle Selbstbeherrschung zusammennehmen musste, um die Magd nicht zu ohrfeigen. Mit fliegenden Fingern half sie Catherine, den Tiegel mit der kühlenden Paste zu öffnen und diese auf die Wunde aufzutragen. Während Aliénor in das immer lauter werdende Geschrei ihres Bruders mit einstimmte, zurrten die beiden Frauen die Leinenbinde fest und versuchten, den Jungen mit sanften Worten zu beruhigen. »Du solltest doch auf ihn achtgeben!«, schimpfte Catherine, als der schlimmste Schaden behoben war und Williams Schluchzen langsam leiser wurde. »Was hatte er im Hof zu suchen?«
Die Gescholtene senkte betroffen den Blick, während sich eine feine Röte auf ihre Wangen legte. »Euer Schwager hat sich erboten, ihn mir abzunehmen, um ihn die Pferde füttern zu lassen«, wisperte sie und nestelte an der Kordel, die ihr Übergewand zusammenhielt. »Er meinte, William könne nicht früh genug die Furcht vor ihnen verlieren«, setzte sie niedergeschlagen hinzu. »Ich hatte doch mit Aliénor alle Hände voll zu tun.« Sie schluckte. »Ich dachte, ich könnte ihm den Jungen anvertrauen.« Catherine schnaubte. »Und das soll ich dir glauben? Mir hat er gesagt, er wolle nach Leicester!«, zischte sie und unterdrückte nur mit Mühe den Drang, Clarice von Alan, dem Steward , bestrafen zu lassen. »Das kannst du getrost«, unterbrach sie Lady Marians klare Stimme. Ohne dass die beiden anderen Frauen es bemerkt hatten, war die Gemahlin Robin of Loxleys in den Türrahmen getreten, wo sie mit vor der Brust verschränkten Armen auf das Durcheinander blickte. Bevor Catherine etwas erwidern konnte, bückte sie sich, hob die kleine Aliénor vom Boden auf und wiegte sie beruhigend in den Armen. »Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie Guillaume deinen Sohn in den Hof geführt hat.« »Das glaube ich nicht!«, erboste sich die junge Lady of Leicester. »Er würde nicht absichtlich …« Ihre Stimme erstarb, als sie sich der Tragweite ihrer Worte bewusst wurde. »Nein!« Wie um sich selbst davon zu überzeugen, schüttelte sie den Kopf und starrte Marian an, doch diese nickte langsam. »Ich fürchte, du musst einen Brief an Harold schicken«, stellte sie ernst fest. »Er scheint
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