Im Reich der Löwin
Der Blick seiner braunen Augen strich über das von Sorge und Gram gezeichnete Gesicht des Burgherrn. »Wenn Ihr sie nicht sofort zu mir gebracht hättet, dann hätte sie es vermutlich nicht überlebt.«
Mit schwerem Herzen zog der Ritter die Tür hinter sich ins Schloss und schlug den Weg zu seinen eigenen Gemächern ein, um über die Zukunft nachzugrübeln. Zwar hatte Gott ihm und Berengaria mit dem Kind in ihrem Leib ein unverhofftes Geschenk in die Hände gelegt. Doch fraß sich immer öfter nagende Furcht in seine Seele, wenn er sich die Reaktion des Königs ausmalte, wenn dieser von der Schwangerschaft seiner entfremdeten Gemahlin erfuhr. Was würde Richard Löwenherz unternehmen, wenn seine Königin einem unbedeutenden Vasallen einen Bastard gebar, während seine eigenen Lenden in der Zeit, in der sie das Ehegemach miteinander geteilt hatten, ohne Früchte geblieben waren? Würde er über den Ehebruch der schönen Spanierin hinwegsehen können? Oder würden sowohl er selbst als auch Berengaria einen hohen Preis für die wundervollen Stunden, die ihnen vergönnt gewesen waren, bezahlen müssen? Ganz zu schweigen von dem Kind! Während sich die Sorge in seiner Brust mehr und mehr ausbreitete, fuhr er sich leise stöhnend durch den unbedeckten Schopf und lehnte die glühende Stirn an eine der kühlen Säulen, die den Eingang zu seiner Kammer flankierten.
Frankreich, Tours 11. Juni 1194
»Beim Heiligen Swithun«, frohlockte Löwenherz und sprang im Innenhof der mächtigen Festung des Grafen de Touraine vom Pferd. »Das war leichter als gedacht!« Roland, der sich bereits aus dem Sattel seines Apfelschimmels hatte gleiten lassen, um Richard Schild und Zügel abzunehmen, unternahm nicht einmal den Versuch, das Grinsen zu unterdrücken, das sich auf seine Züge stahl. Seit der Schlacht von Verneuil, in der Roland die bereits Legende gewordene Tollkühnheit seines Halbbruders an vorderster Front hatte miterleben dürfen, hatte sich der Knabe nicht von dem Schock erholt, den ihm das Töten bereitet hatte. Nächtelang war ein wahres Pandämonium an Schuldgefühlen auf ihn eingestürmt, hatten die verstümmelten Leiber und entstellten Gesichter der getöteten Feinde ihm den Schlaf geraubt. Doch irgendwann war das Scharlachrot des Blutes verblasst und die Erinnerungen hatten an Schärfe verloren, bis Roland schließlich eines Morgens frisch und erholt erwacht war und mit dem kalten Wasser des Baches auch die grauenhaften Bilder abgewaschen hatte. Richard, dem die niedergedrückte Stimmung des Knaben aufgefallen war, hatte ihm mit Stolz in den Augen die Hände auf die Schultern gelegt und ihn mit eindringlichen Worten davor gewarnt, die Dunkelheit gänzlich aus seiner Seele zu verbannen. »Wenn du nicht zu einer der gefühllosen Bestien werden willst, die du tief im Innern deines Herzens verachtest«, hatte er mit einem wissenden Seitenblick auf Mercadier geraten, dessen kalte Augen Roland stets mit einem Schaudern erfüllten, »dann lass den Schmerz und die Trauer zu, die du empfindest, wenn du ein Menschenleben nehmen musst.« Ein Schatten der Wehmut war wie ein Gespenst aus der Vergangenheit über sein Gesicht gehuscht. »Auch wenn du irgendwann aufhören wirst zu zählen.«
Munter vor sich hin pfeifend, löste Roland die Sattelgurte und schlenderte – die beiden Schlachtrösser im Schlepptau – auf das Stallgebäude zu. An diesem brütenden Sommertag schien die Luft mit bleierner Schwere über der Stadt zu liegen, die den Engländern ihre Tore ohne Widerstand geöffnet hatte. Tief unter den Mauern der Festung schlängelte sich das breite Band der Loire unter funkelndem Glitzern gen Westen. Die Mauersegler, Schwalben und Spatzen veranstalteten ein wahres Schimpfkonzert, als Richards Truppen von den Stallungen, Dienstgebäuden und dem Palas Besitz ergriffen. Der schwere Duft frisch geschnittenen Grases hing über den Dächern und verschmolz mit dem harzigen Geruch eines Kochfeuers, über dem die Köchin der Burg soeben ein Ferkel aufspießte. Doch die Hitze briet so erbarmungslos von dem grellblauen Himmel, dass Roland erleichtert aufseufzte, als er mit den beiden Reittieren die angenehme Kühle und Dunkelheit des oberen Stallkomplexes erreichte.
»Du kannst ihn mir geben, ich reibe ihn für dich ab.« Die immer noch ungewohnte Freundlichkeit Humphreys verschlug dem Knaben zum wiederholten Male die Sprache. Aber als der Sohn des Earls of Pembroke lächelnd nach dem Zügel des Wallachs griff, ließ Roland ihn
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