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Im Reich der Löwin

Im Reich der Löwin

Titel: Im Reich der Löwin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Stolzenburg
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die Hand mit der Klinge, um die Prozedur zu wiederholen. »Haltet ein!«, erscholl in diesem Moment eine Stimme vom Fuß des Hügels. Und wenig später verneigte sich ein zerschlissener Bote in den Farben des englischen Königs. »Lasst die Waffen ruhen! Der Krieg ist vorbei!« Wütend und fassungslos zugleich senkte Mercadier das Messer und stieß den vor Erleichterung bebenden Auvergner von sich. »Da soll mich doch der Teufel holen!«

Ein Weinberg in der Auvergne, Ende August 1195
     
    Während der normannische Söldnerführer mit der Enttäuschung über diese Unterbrechung seines Verhörs kämpfte, waren in einem nahe gelegenen Weinberg bereits mehrere Hundert der ehemaligen Gegner damit beschäftigt, die saftigen Trauben zu ernten, bevor diese verfaulten. In einer beinahe höllischen Kakophonie, die wie eine Flutwelle durch die engen Täler zwischen den dicht gepflanzten Reben schwappte, vermischten sich kehlige Bässe mit hellen Tenorstimmen und den Mittellagen der Baritone.
     
    »Dauphin, ich möchte Euch fragen, Euch und auch Graf Guido – was habt Ihr in jüngster Zeit vollbracht, um Eurem Ruf als gute Krieger gerecht zu werden? Ihr habt mir Treue geschworen – und Eure Treue war wie die Treue zwischen Isegrim und Reineke Fuchs. Hasenfüße seid Ihr.
    Ihr hörtet auf, mir beizustehen, als ich Euch nicht mehr bezahlen konnte. Doch wusstet Ihr wohl, dass in Chinon weder Silber noch Kupfer vorhanden war. Einen reichen König wolltet Ihr, einen tapferen König, der sein Wort hält; und ich bin geizig und ängstlich, so wandtet Ihr Euch von mir ab.«
     
    Seite an Seite schmetterten die bis vor Kurzem noch verfeindeten Parteien die ersten Strophen des von Richard Löwenherz verfassten Sirventes , das die Herrscher der Auvergne zur Unterstützung ihres »Lehnsherrn« gemahnt hatte. Doch wohingegen die Engländer den ersten Teil besonders betonten, liefen die Franzosen bei der zweiten Strophe zu Höchstform auf. Während der Gesang von den scheinbar endlosen Weinbergen widerhallte, flogen die dicken blauen und weißen Trauben im hohen Bogen in die dafür vorgesehenen Körbe, die von den jungen Mädchen der Region geschultert und zur Kelter gebracht wurden. Kaum hatten Löwenherz, Guido I. und Robert II. erkannt, dass man Gefahr lief, durch die anhaltenden Kriegshandlungen eine weitere Missernte herbeizuführen, hatten die drei Herrscher blitzartig eine für alle Seiten akzeptable Waffenruhe vereinbart. Wenn alle Konflikte so schnell behoben werden könnten, ging es Roland durch den Kopf, als er sich den schmerzenden Rücken rieb, dann wäre dieser sich immer mehr in die Länge ziehende Krieg bald vorbei!
    Neben ihm schwitzte sein Bruder Henry, dessen Arme – ebenso wie die seinen – bis zu den Ellenbogen mit dem süßen, klebrigen Saft der Trauben besudelt waren. Die Muskeln seiner Schultern spannten sich unter dem engen, schweißverklebten Untergewand, da er Cotte und Surkot abgelegt hatte, um diese vor dem Schmutz der harten Arbeit zu schützen. Seine empfindliche, für gewöhnlich blasse Haut hatte einen ungesunden Rotstich, und sowohl der schlanke Nasenrücken als auch die ausgeprägten Wangenknochen schälten sich heftig. Während er das Brennen in seinem Rücken ignorierte, schuftete Roland weiter und ließ die Gedanken treiben. Das wogende Auf und Ab der nach Bauernart gekleideten Mädchen erfüllte ihn zwar mit einer rein körperlichen Begierde. Aber anders als viele der Männer um ihn herum, die mehr oder weniger diskret dem Druck abhalfen, der sie quälte, verspürte er kein wirkliches Verlangen nach ihren körperlichen Reizen. Wie sehr sich Jeannes zarte Schönheit von der dieser drallen Mägde unterschied! Wie erhaben und beinahe überirdisch schön sie jedes Mal wirkte, wenn er den Blick auf sie richten durfte! Wie zufällig hatte er von Richard Löwenherz die Einzelheiten über ihre Flucht erfahren. Doch da sein Halbbruder in ihr nichts weiter sah als eine Möglichkeit, einem Verbündeten Philipps eines auszuwischen, war das Interesse des englischen Königs an ihr begrenzt. Zwar hatte er seinem Knappen einen fragenden Blick zugeworfen, als dieser ihn immer und immer wieder mit Fragen gelöchert hatte. Aber die Angelegenheit war augenscheinlich zu unbedeutend für ihn, um seine volle Aufmerksamkeit zu verdienen. »He, du träumst ja mit offenen Augen!« Schmerzhaft bohrte sich Henrys spitzer Ellenbogen in seine Seite, und mit einem schuldbewussten Lächeln bückte sich Roland nach dem Berg an

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