Im Reich der Löwin
den Braunschweiger Wappenlöwen auf Ottos weißem Umhang und nagte an der Unterlippe.
Sicherlich hatte der Ritter viel Erfolg bei den Frauen! Mit einem unterdrückten Seufzen zog Roland vorsichtig den dünnen Beinling über die verheilte Wunde und klopfte den Staub von seinem linken Knie. Wenn er selbst doch nur einen Bruchteil von Ottos Selbstsicherheit vorzuweisen hätte, dachte er niedergeschlagen. Dann müsste er sich nicht seit dem Aufbruch von Rouen vor zwei Monaten fragen, ob Jeanne de Touraine sein Interesse jemals erwidern würde. Ehe er sich in zermürbendem Selbstzweifel ergehen konnte, brach krachend eine Zinne durch die hölzernen Planken des Wehrganges und schlug dicht neben einem Armbrustschützen auf. Während sich sein Herzschlag mit einem Satz beschleunigte, stülpte Roland den Helm auf den Kopf, zog das Schwert und stürmte zur Schildmauer.
Frankreich, der Hof in Poitiers, November 1195
Der seit Tagen über das Land peitschende Regen trommelte gegen die prächtigen Fenster des Grande Salle der Grafenburg in Poitiers, in die sich die Damen nach dem erneuten Aufbruch der Männer zurückgezogen hatten. Im Unterschied zu der stark umkämpften Handelsmetropole Rouen bot das abseits der Kampfhandlungen gelegene Poitiers die Sicherheit und Kultiviertheit, die Aliénor von Aquitanien so schätzte. Nach einem ausgedehnten Gottesdienst in Notre-Dame-la-Grande hatten die Frauen ein leichtes Mahl aus Brot, Fisch und gegrilltem Fasan zu sich genommen und saßen nun schwatzend und lachend um ein prasselndes Feuer, das die Halle mit wohliger Wärme erfüllte. Ein halbes Dutzend Kinder spielte unter der Aufsicht einer Amme mit Figuren, die viel zu kostbar wirkten für ihre tollpatschigen Hände. Doch das schien niemandem Sorgen zu bereiten. Ein blutjunger Troubadour kniete vor Aliénor von Aquitanien, die den sanften Tönen seiner Laute beinahe andächtig lauschte, und brachte ein Minnelied dar. Einige der älteren Hofdamen ließen mit etwas zu viel Interesse die Blicke über sein hautenges Surkot gleiten. Aber die meisten der Anwesenden ignorierten den Sänger und gaben sich den Verlockungen des Tratsches hin.
»Wie heißt denn der Glückliche?«, fragte Catherine of Leicester die verträumt in die Flammen starrende Jeanne de Maine – die ihren Mädchennamen wieder angenommen hatte – neckend. Ihr dunkelblondes Haar steckte unter einem leichten Schleier, dessen kräftiges Rot die Ebenmäßigkeit ihrer Haut hervorhob. In den vergangenen Wochen hatten sich die beiden jungen Frauen angefreundet. Und da Catherine nur vier Jahre älter war als Jeanne, war es ihnen leicht gefallen, gemeinsame Interessen und Ansichten zu finden, über die sie sich an den langen Herbstabenden austauschen konnten. Immer wieder hatte die Jüngere der Freundin Löcher in den Bauch gefragt über Angelegenheiten, die das eheliche Schlafgemach betrafen. Wenngleich sie stets heftig beteuerte, dass sie für immer die Nase voll hatte von Männern, ahnte Catherine die Wahrheit, die sich hinter diesen Äußerungen verbarg. »Was meinst du?«, fragte Jeanne mit überrascht aufgerissenen Augen, deren kräftiges Grün den Schein des Feuers widerspiegelte. Catherine schmunzelte, wies auf die Stickerei im Schoß der Freundin und stellte fest: »Seit Tagen hast du nicht einen einzigen Stich getan. Deine Gedanken sind meilenweit entfernt.« Mit einer schuldbewussten Geste nahm Jeanne den Rahmen auf, fuhr mit den Fingerspitzen über die feinen Konturen eines stilisierten Rosses und richtete den Blick auf die Ältere.
»Vielleicht mache ich einen Fehler«, gestand sie nach kurzem Schweigen. Sie leckte sich die trockenen Lippen und spielte nervös mit einem schmalen Goldreif an ihrer linken Hand, bevor sie leise hinzusetzte: »Manchmal denke ich, es gibt sie vielleicht doch, die wahre Liebe.« Ihr Mund zuckte unsicher, und ihr Blick wanderte zu dem Troubadour, der sich inzwischen erhoben hatte, um seine Belohnung entgegenzunehmen. »Sie wird in so vielen Liedern besungen«, fuhr sie fort, biss sich auf die Unterlippe und seufzte schwer. »Die Königin und du, ihr habt sie gefunden.« Catherine nickte wehmütig, während ihre Gedanken – wie so oft – zu ihrem Gemahl abschweiften. Was sie darum geben würde, Harold an ihrer Seite zu haben! Nach einer wundervollen Nacht in Rouen, in der die furchtbaren Erlebnisse des vergangenen Jahres wie Schuppen von ihr abgefallen waren, hatte sie ihn schweren Herzens ziehen lassen müssen. Sie selbst hatte
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