Im Reich der Löwin
Devizes deshalb Gewissensbisse. Doch der Groll gegenüber dem einstigen Geliebten war immer noch stärker als sein Rechtsempfinden.
»Ah, Devizes«, begrüßte Richard ihn mit einem anzüglichen Lächeln auf den Lippen. »Ich habe dich lange nicht mehr gesehen.« Wessen Schuld das wohl ist, ging es dem Zisterzienser durch den Kopf. Aber er würdigte die Anspielung mit keiner Regung und starrte stier auf die Spitze seines Schuhs, der von dem gebeugten Knie halb verdeckt wurde. »Steh auf«, brummte Richard und begann, unruhig vor einem der kleinen Fenster auf und ab zu wandern. »Schreib:
Kapitulationsbedingungen:
Die bestehenden Machtverhältnisse werden festgeschrieben. Die eroberten Gebiete in der Auvergne und im Berry bleiben in der Hand Richard Plantagenets. Alle englischen Geiseln werden freigelassen, die französischen Gefangenen bleiben in der Obhut des englischen Königs.
Philipp von Frankreich und seinen Truppen wird freier Abzug garantiert.
Die Bedingungen werden in einem Friedensvertrag festgeschrieben.«
Verwirrt hob Devizes den Blick. Diktierte Löwenherz, der seit über einer Woche von der französischen Armee umzingelt war, ihm tatsächlich Bedingungen, die Forderungen an Philipp enthielten? Hatte er den Verstand verloren? »Sieh mich nicht so an«, sagte Richard Löwenherz. »Du wirst sehen!« Mit einem Stirnrunzeln trocknete Devizes die Tinte, erhitzte das Wachs und drückte Richards Siegel in die weiche Masse. Was auch immer der König plante, er hatte offensichtlich nicht vor, es mit ihm zu teilen.
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Während der verdutzte Chronist verfolgte, wie Richard Löwenherz die Nachricht einem Boten aushändigte, nahm ein Stockwerk unter ihm, im sonnendurchfluteten Hof der Festung, der trotz der Kühle des Tages schwitzende Roland Plantagenet allen Mut zusammen, ehe er eine Hand an den Unterschenkel legte und den Atem anhielt. Mit einem kräftigen Ruck riss der kauernde junge Mann die angetrocknete Bandage von der Wunde und starrte auf den hässlichen, etwa zwei Zoll breiten Schnitt an seiner rechten Wade hinab. Dieser war in der vergangenen Woche gut verheilt. Wie es aussah, würde lediglich eine tiefrote Narbe zurückbleiben, die im Lauf der Zeit verblassen und ihn auch noch in vielen Jahren an dieses Abenteuer erinnern würde. Einer glücklichen Fügung war es zu verdanken, dass die Waffe des französischen Ritters weder Sehnen noch Knochen durchtrennt hatte, und dass die Verletzung seit der letzten Behandlung nicht von Fäulnis befallen worden war. Es hätte auch anders ausgehen können, dachte er schaudernd. Zu viele Männer hatte er inzwischen an Wundbrand sterben sehen, sodass sich tief in seinem Innern ein Eiszapfen der Furcht gebildet hatte, als sich ein bläulich verfärbter Ring um die mit Eiter gefüllte Wunde gelegt hatte. Geistesgegenwärtig hatte er noch am selben Abend einen der in der Heilkunde ausgebildeten Mönche aufgesucht, der nicht lange gefackelt und den Schnitt ausgebrannt hatte, um die zähe Flüssigkeit ablaufen zu lassen. Zwar hatte ihm der Schmerz für kurze Zeit die Besinnung geraubt. Doch als er wieder zu sich gekommen war, hatte seinen Unterschenkel ein sauberer weißer Verband geziert, den er auf Befehl des Ordensbruders erst jetzt abnahm.
»Sieht gut aus«, schreckte ihn eine Stimme in seinem Rücken auf. Als er sich erstaunt umwandte, erblickte er zu seiner Verwunderung den jungen Neffen des Königs, Otto von Braunschweig, der mit seinen breiten Schultern die Sonne verdeckte. Eigentlich war der nur knapp drei Jahre ältere Otto auch Rolands Neffe. Denn seine Mutter, Mathilde Plantagenet, war Rolands Halbschwester. Aber jedes Mal, wenn der Knabe zu dem hünenhaften Krieger aufsah, ertappte er sich dabei, wie er das Erscheinungsbild des Prinzen mit seinem eigenen Äußeren abglich. »Du solltest aber nicht zu leichtsinnig sein«, warnte Otto ernst. »Die Wunde kann sich jederzeit neu entzünden, wenn du nicht achtgibst.« Sprachlos rappelte sich Roland auf die Beine und wollte eine gestammelte Erwiderung hervorpressen. Doch der blonde Welfe hatte sich bereits mit einem freundlichen Nicken verabschiedet, als der Knabe die Sprache wiederfand. Ärgerlich über das Gefühl der Unterlegenheit, das mit einem flammenden Glühen in seine Wangen stieg, knüllte Roland die Bandage zusammen und pfefferte sie in eines der Kohlebecken. Während der seit über einer Woche unentwegt dröhnende Geschosshagel in seinen Ohren hallte, starrte er verdrossen auf
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