Im Reich des Vampirs
Oft blendet uns das Viele, das wir sehen.«
»Das ist absurd. Wie kann man von dem, was man sieht, derart geblendet werden?«
»Stell dir vor, du erkennst die atomare Struktur von allem, was dich umgibt, MacKayla, aus der Vergangenheit, der Gegenwart und Teilen der Zukunft, und du müsstest inmitten dieses Chaos leben. Stell dir vor, du würdest ein Bewusstsein in unendlicher Dimension besitzen, du könntest die Ewigkeit verstehen â nur eine Handvoll deiner Artgenossen haben ein solches Bewusstsein erlangt. Stell dir vor, du könntest die Konsequenzen jeder einzelnen Handlung voraussehen â vom kleinsten Atemzugangefangen â in allen Realitäten, aber du kannst die einzelnen Bruchstücke nicht zu einem zuverlässigen Bild zusammensetzen, weil alles Lebende ständig im Fluss ist. Nur im Tod gibt es Stagnation und selbst dann ist sie nicht absolut.«
Ich hatte schon Schwierigkeiten, in meiner kleinen, engen Welt zu funktionieren. »Du willst also sagen«, fasste ich zusammen, »dass ihr trotz eurer Ãberlegenheit und Macht nicht schlauer oder besser seid als wir. Vielleicht sogar noch unzureichender.«
Ein Herzschlag dehnte sich zu einem halben Dutzend aus. Dann lächelte er kühl. »Verspotte mich, wenn du willst, MacKayla. Ich werde an deinem Totenbett sitzen und dich dann fragen, ob du nicht doch lieber sein willst wie ich. Wo ist dieser menschliche Narr, der sich einbildet, alles beherrschen zu können?«
» 1247 L A R UHE . Im Lagerhaus hinter der Villa. Riesige Dolmen. Er bringt sie durch dieses Portal. Würde es dir etwas ausmachen, das Portal für mich zu zertrümmern?«
»Dein Wunsch ist mir Befehl.« Und damit war er verschwunden.
Ich starrte den leeren Liegestuhl an. Hatte er wirklich vor, das Portal zu zerstören, durch das die Unseelie kamen? Würde er den Lord Master auch vernichten? Sollte meine Rache so sang- und klanglos vonstattengehen? Und ohne mich als Augenzeugin? Das wollte ich nicht. »Vâlane!«, schrie ich. Aber ich erhielt keine Antwort. Er war weg. Und ich würde ihn umbringen, wenn er den Mörder meiner Schwester ohne mich tötete. Das Rachefieber, das mich an meinem ersten Abend in Dublin befallen hatte, hatte sich in etwas anderes verwandelt â in eine Art Blutrausch. Ich wollte, dass Blut für meine Schwester floss. Ich wollte es durch eigene Hand vergieÃen. Die wilde Mac in mir hattenoch keine hörbare Stimme, redete noch nicht mit meiner Zunge, aber wir benutzten dieselbe Sprache, sie und ich, und stimmten in der Hauptsache überein.
Wir würden den Mörder meiner Schwester gemeinsam töten.
»Junior?«, sagte eine leise, melodische Stimme. Ich hatte nie erwartet, diese Stimme jemals wieder zu hören.
Ich schauderte. War sie vom Meer gekommen? Ich starrte auf die Wellen. Ich sollte gar nicht nachsehen, denn ich war im Reich der Feen. Hier konnte man nichts und niemandem trauen.
»Junior, komm, ich bin hier drüben«, lockte meine Schwester und lachte.
Der Schmerz überwältigte mich. Das war Alinas Lachen: süÃ, klar, voll von Sommer, Sonnenschein und der Ãberzeugung, dass ihr Leben noch viel Schönes versprach.
Ich hörte einen Volleyball auf eine Handfläche klatschen. »Baby Mac, lass uns spielen. Es ist ein wunderschöner Tag. Ich habe Bier mitgebracht. Hast du die Limetten von der Bar geholt?«
Mein Name ist MacKayla Evalina Lane. Ihrer Alina MacKenna Lane. Ich war jünger als sie. Manchmal hatte sie mich Baby Mac genannt. Ich hatte an den Samstagen oft Limetten aus dem Brickyard stibitzt. Mies â ich weiÃ. Ich wollte nie erwachsen werden.
Tränen brannten in meinen Augen. Ich atmete ein paar Mal ganz tief durch und ballte die Hände zu Fäusten, starrte kopfschüttelnd aufs Meer. Sie war nicht da. Ich hörte gar nicht, wie der Ball auf den Sand aufschlug. Ich roch nicht ihr Beautiful-Parfüm in der Brise.
»Der Sand ist perfekt, Junior, wie Puder. Jetzt komm schon! Tommy wird auch bald da sein«, neckte sie. Ich hatte jahrelang für Tommy geschwärmt. Er ging mit meinerbesten Freundin, deshalb tat ich so, als könnte ich ihn nicht ausstehen, aber Alina kannte die Wahrheit.
Sieh nicht hin, sieh nicht hin. Es gibt Geister und schlimmere Dinge als Geister.
Ich drehte mich um.
Hinter dem Volleyballnetz stand, umweht von einer sanften tropischen Brise, meine lächelnde
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