Im Saal der Toten
gebrühten Kaffee. Ich bat Mercer, sich den Bericht über die MetroCard des Vergewaltigers hierher faxen zu lassen, damit ich während der langen Autofahrt nach New York etwas zu tun hatte. Wir vertrieben uns mehr schlecht als recht die Zeit, bis wir nach Vineyard Haven fuhren, um uns in die kurze Warteschlange für die Fähre einzureihen. Um Viertel nach eins waren wir auf der Route 8, in Richtung der I-95 nach New York.
Ich streckte mich auf dem Rücksitz aus, stopfte mir meinen Anorak unter den Kopf und überflog den Bericht der Sonderermittlungseinheit der städtischen Verkehrsbetriebe.
Die MetroCard war vor etwas über einem Monat, am dritten Januar, gekauft worden, und zwar an einem Zeitungsstand in der 59. Straße. Leider hatte der Käufer bar bezahlt. Mit einer Kreditkartennummer hätten wir den Fall leicht lösen können.
Ich balancierte einen Block auf meinem rechten Knie und machte mir Notizen über den Bewegungsradius des Mannes. Jeden Werktag nahm er morgens zwischen acht und halb neun eine Bahn der Lexington-Linie in Richtung Downtown von der Haltestelle in der 77. Straße, die nur ein paar Blocks westlich von den Tatorten lag. Abends stieg er meistens zwischen halb sieben und sieben Uhr an der U-Bahn-Station in der 51. Straße Ost zu, einer Gegend mit vielen Banken, Läden und Büros.
Es waren einige spätnächtliche Fahrten verzeichnet, knapp vor Mitternacht. Ich müsste diese Daten mit den Verbrechen abgleichen, um herauszufinden, ob er sich unmittelbar vor oder nach den Überfällen in der Nähe der Tatorte herumgetrieben hatte. Aber eine Sache fiel mir ins Auge.
»Hey, Mercer. Erinnerst du dich an den Schneesturm vor zwei Wochen? Weißt du noch, an welchem Tag das gewesen ist?«
»Es war ein Montag. Das Datum weiß ich nicht mehr, aber es war mein freier Tag, und ich hatte ein langes Wochenende. Warum?«
»Eine Sekunde.«
Mercers Metro-Mann war am Vormittag seine übliche Strecke gefahren und war dann nachmittags etwas früher als üblich, um halb sechs Uhr, an der 51. Straße zugestiegen. Eine Stunde später stieg er in der 77. Straße wieder in eine Bahn Richtung Süden.
An demselben Abend fuhr er zum ersten Mal mit dem Bus. Sonst war er immer nur mit der U-Bahn gefahren. Er stieg an der Haltestelle in der 44. Straße in den M2, der die First Avenue entlangfuhr.
Die Details fügten sich langsam zu einem Bild. Sein Domizil auf der Upper East Side, die Beschreibungen eines eleganten, eloquenten Täters; Annikas scharfsinniges Ohr, das einen britischen Akzent herausgehört hatte; ein Vergewaltiger, der vier Jahre lang nicht in der Stadt – vielleicht nicht einmal im Land – gewesen war; ein Zwangstäter, dessen DANN in keiner Datenbank in den Vereinigten Staaten gespeichert zu sein schien; und eine MetroCard, die bewies, dass er vor den einzigen Gebäuden, die östlich der First Avenue und der 44. Straße standen, in den Bus gestiegen war.
»Herrgott noch mal! Du willst den Scheißkerl schnappen, Mercer? Dann ruf im Dezernat an und schick jemanden zum UN-Revier. Finde heraus, ob an dem Montagabend bei der UNO ein Empfang, eine Rede oder eine Party stattgefunden hat. Dann besorg dir die Liste von allen Anwesenden – einschließlich Ehepartner, Kinder, Personal. Besorg die Adressen von allen Botschaftern und Delegierten, die in Manhattan wohnen.«
Mercer sah mich im Rückspiegel an und lächelte das erste Mal seit zwei Tagen.
»Meine Herren, wollen wir wetten? John Doe ist der Sohn eines afrikanischen Diplomaten.«
35
Während Mike mir nicht einmal zuzuhören schien, war Mercer für meine Idee zu erwärmen. »Noch mal von vorn, Alex.«
»Wir reden hier von der Comfort Zone des Täters, das heißt dem Bereich, in dem er sich wohl und sicher fühlt, richtig? Bisher hatten wir an einen Dunkelhäutigen gedacht, der auf der Upper East Side arbeitet. Als Angestellter, Tellerwäscher, Reinigungskraft oder Ähnliches. Aber überleg mal, wie viele Diplomaten und Konsularangestellte der Vereinten Nationen in der Gegend wohnen. Dort leben haufenweise afrikanische Diplomaten mit ihren Familien.«
»Seit meinem Studium hat sich die Weltkarte so sehr verändert, dass ich dir nicht einmal sagen kann, wie viele Mitgliedsstaaten die UNO momentan hat.«
»Das ist weit hergeholt, Coop«, meldete sich Mike zu Wort.
»Vielleicht. Vielleicht ist es nicht gleich ein Diplomatensohn, aber die Missionen beschäftigen viele Angestellte, und die meisten Bediensteten haben Familienangehörige hier,
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