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Im Saal der Toten

Im Saal der Toten

Titel: Im Saal der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Fairstein
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dass er den Hauptteil der Trauerarbeit allein leisten musste.
    Ich drehte die Whirlpool-Düsen auf und blätterte in dem Buch. Sehr viele Gedichte richteten sich an tote oder im Sterben liegende Frauen – hinter denen sich wohl immer Poes Virginia verbarg – und in sehr vielen ging es um den Verlust eines geliebten Menschen. Ich las die Gedichte laut, wobei ich meinen Sprechrhythmus meiner düsteren Stimmung anpasste.
    Schließlich kam ich zu Poes berühmtem Gedicht Der Rabe . Es war Jahre her, seit ich das Gedicht in seiner ganzen Länge gelesen hatte. Der Herausgeber der Anthologie hatte in seiner Einführung geschrieben, dass dieses Werk in seiner Wirkung in der amerikanischen Literaturgeschichte wahrscheinlich von keinem anderen Gedicht übertroffen sei. Seit seiner Veröffentlichung waren über einhundertfünfzig Jahre vergangen. Das musste man sich mal vorstellen!
    Ich liebte alles an dem Gedicht: die Geschichte eines jungen Mannes, der vom Tod seiner Liebsten am Boden zerstört ist und in einer rauen Winternacht von einem majestätischen schwarzen Raben besucht wird; die Tatsache, dass der Vogel sprechen konnte (Poe hatte in einem Essay dargelegt, dass er ein Lebewesen verwenden wollte, das nicht denken, aber sprechen konnte); der rhythmische Aufbau der Strophen, im Laufe derer sich der Erzähler seines schrecklichen Schicksals bewusst wird, dass er im Vergessen keinen Frieden finden wird. Und dann war da natürlich noch der höhnische Refrain des Raben – »Nimmermehr«.
    Dem Gedicht folgte eine Anmerkung, dass der Vogel für Poe »ein Symbol der nicht endenden Trauer und Erinnerung« war. Ich dachte an all die unnatürlichen und unnötigen Todesfälle der zurückliegenden Woche und klappte das Buch zu. Ich trocknete mich ab, schlüpfte unter die Bettdecke und las, bis mir die Augen zufielen.
    Da wir Aaron Kittredges Tagesablauf nicht kannten, hatte Mercer angeboten, mich am Sonntagmorgen um halb sieben Uhr abzuholen. Wir fuhren zu Kittredges Wohnung in der West End Avenue, parkten vor seinem Haus und schlürften zum Wachwerden den Kaffee, den wir in der Bodega an der Ecke gekauft hatten.
    Fast eine Stunde lang unterhielten wir uns über Mike und Valerie. Mercer hatte Mike am Vorabend zu Hause abgesetzt; eine seiner Schwestern hatte dort auf ihn gewartet und es so arrangiert, dass er das Wochenende zusammen mit seinen Geschwistern bei seiner Mutter verbringen würde.
    Um Punkt sieben Uhr dreißig kam Kittredge mit einer Sporttasche in der Hand aus dem Haus. Wir stiegen aus, und ich rief seinen Namen.
    Er wandte den Kopf, blieb aber nicht stehen.
    Ich lief ihm hinterher. »Mr Kittredge, ich muss mit Ihnen reden.«
    »Ein andermal. Ich bin schon spät dran.«
    »Zwanzig Minuten.«
    »Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß. Schnee von gestern. Lassen Sie mich in Ruhe.«
    Jogger und Hundebesitzer sahen uns neugierig an. Ich zwängte mich durch sie hindurch und rief ein einziges Wort: »Ratiocination!«.
    Kittredge blieb stehen und drehte sich um. »Wenn das kein Wort ist, das ich schon lange nicht mehr gehört habe! Wen haben Sie denn dieses Mal dabei? Den stillen Typ statt des Klugscheißers?«
    »Mercer Wallace, Sonderdezernat für Sexualverbrechen.«
    »Wir reden besser drinnen weiter.« Er zog seinen Schlüssel aus der Tasche und ging mit uns zurück in seine Wohnung.
    Er bat uns, im Wohnzimmer Platz zu nehmen, während er den Kopf durch die Schlafzimmertür steckte und im Flüsterton mit seiner Freundin sprach. Wahrscheinlich erklärte er ihr unsere Anwesenheit.
    »Also, worum geht’s hier? Sind Sie vom Buchclub der Bezirksstaatsanwaltschaft? Oder lesen Sie jetzt Romane, um Ihre Fälle zu lösen?«
    Er schenkte sich Kaffee ein, ohne uns welchen anzubieten.
    »Können wir noch einmal bei Emily Upshaw anfangen?«, fragte ich.
    »Wie Sie wollen.«
    »Sie erinnern sich doch an die Geschichte, die sie Ihnen erzählt hat, als Sie sich kennen lernten – von dem Freund, der behauptet hatte, ein Mädchen umgebracht zu haben?«
    »Ja, und?«
    »Als ich mit Mike Chapman hier war, fiel der Name Edgar Allan Poe nicht. Hat Emily jemals erwähnt, dass dieser Mord, von dem sie Ihnen erzählt hat, etwas mit Poe zu tun haben könnte?«
    Kittredge schüttelte den Kopf. »Können Sie sich vorstellen, wie der diensthabende Sergeant sie angesehen hat, als sie aufs Revier kam und etwas von einer Frau faselte, die angeblich bei lebendigem Leib eingemauert worden war? Alle hielten sie für durchgeknallt. Einen Haufen

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