Im Saal der Toten
Absichten des Mörders?«
»Nur das, was ich in den Zeitungen gelesen und worüber ich mich mit einigen Vereinsmitgliedern unterhalten habe«, sagte Zeldin und hob sein Glas in Mikes Richtung.
»Poe hat nur ein Jahr lang dort gewohnt. Warum also Ihr Interesse an genau diesem Ort?«
»Ja, Mr Chapman, nur ein Jahr. Aber wissen Sie, was er in diesem Jahr geschrieben hat?«
Wir schüttelten alle drei den Kopf.
»Die wunderbarste Abhandlung über Leidenschaft und Rache, die je geschrieben wurde. Eine Erzählung mit dem Titel ›Das Fass Amontillado‹.«
»Aber natürlich«, sagte ich. Es war eine seiner berühmtesten Geschichten, und ich hatte sie in einem Literaturseminar an der Uni gelesen. »Der Erzähler mauert jemanden hinter einer Ziegelwand ein, weil ihn dieser verraten hat. Er begräbt ihn bei lebendigem Leib und lacht, während der Mann um sein Leben fleht. Ich erinnere mich aber nicht mehr, warum er seinem Opfer das angetan hat?«
Ich dachte an die junge Aurora Tait, die an genau dem Ort, an dem die Geschichte entstanden war, das Schicksal der literarischen Figur teilte.
Zeldins Latein war perfekt. »Das Familienmotto, Miss Cooper. Nemo me impune lacessit. ›Niemand reizt mich ungestraft.‹«
»Vielleicht kommen wir uns schon näher«, sagte Mike. »Heißt jemand in Ihrem Verein Monty, mit richtigem Namen oder Spitznamen? Das kann auch zwanzig oder dreißig Jahre her sein.«
»Warum fragen Sie?«
»Eines der Opfer hatte möglicherweise einen Freund namens Monty.«
»Da hat man sie wahrscheinlich auf den Arm genommen, Detective. Es wäre ein köstlicher Scherz, wenn der Mörder diesen Namen annehmen würde, aus zweierlei Gründen. Da ist zum einen Amontillado.«
»Der Sherry?«, fragte ich.
»Genau. Ein heller, trockener Sherry aus dem Montilla-Gebiet in Spanien. Der Erzähler der Geschichte lud sein Opfer ein, ihm in die Katakomben zu folgen, um dieses wunderbare, seltene Getränk zu kosten. Er wollte sein Opfer betrunken machen, damit es bewusstlos wurde, aber rechtzeitig wieder zu sich kam, um mitanzusehen, wie die letzten Ziegelsteine um ihn herum aufgeschichtet wurden.«
Gut möglich, dass auch Aurora Tait von jemandem, den sie verraten hatte, mit der Aussicht auf guten Stoff oder hochwertiges Kokain in den Keller in der 3. Straße gelockt worden war.
»Dann ist da auch noch der Name des Mörders«, sagte Zeldin. »Erinnern Sie sich nicht, Ms Cooper? Poe nannte ihn Montresor.«
»Monty«, flüsterte Mike. »Da suche ich die ganze Zeit nach einem Kerl namens Monty, als wäre das sein richtiger Name. Dabei hat er wahrscheinlich nur mit Leuten gespielt und darauf vertraut, dass keiner der anderen Junkies in der Selbsthilfegruppe Poes Erzählungen kennt.«
»Ich kommentiere nur die Ironie, dass man die arme Frau genau dort gefunden hat«, sagte Zeldin defensiv, »und Sie versuchen schon, den Mord jemandem namens Monty anzuhängen.«
»Ich muss meine Lektüre auffrischen«, sagte Mike. »Sollten Sie in der Zwischenzeit eine Geschichte von Poe finden, in der jemand beim Sturz über einen Wasserfall ums Leben kommt, lassen Sie es mich bitte wissen. Einmal ist keinmal, aber bei zwei Mal könnte vielleicht ein Plan dahinter stecken.«
»Das klingt eher nach Sherlock Holmes als nach Poe. Professor Moriarty und der große Holmes, die bei den Reichenbachfällen miteinander kämpfen«, sagte Zeldin. »Aber nehmen Sie meine Krücken aus der Ecke, und sehen Sie sich die dünne lavendelfarbene Ausgabe von Poes Erzählungen im dritten Regal von oben an, Mr Chapman. Die Geschichte, die Sie suchen, ist in dieser Sammlung.«
26
Ich hatte »Im Wirbel des Maelstroms« noch nie gelesen, aber die zehn Seiten, die ich jetzt in einer von Zeldins ledergebundenen Erstausgaben überflog, ähnelten auf unheimliche Weise Dr. Ichikos letzten Minuten auf Erden. In typischer Poe-Manier beschrieb der Erzähler, »welch herrliche Sache es sei, auf diese Weise zu sterben«, und sah dann dabei zu, wie sein eigener Bruder in den Wasserstrudeln verschwand.
Um Punkt sechs Uhr klopfte eine grau uniformierte Haushälterin an die Bibliothekstür und meldete Zeldin, dass seine Physiotherapeutin im Fitnessraum auf ihn warte. Er sah uns an und fragte, ob er gehen könne.
»Die meisten Leute, die ich kenne, fangen erst nach ihren Leibesübungen mit dem Trinken an«, sagte Mike mit seiner üblichen Skepsis.
»Ich habe ein degeneratives Nervenleiden, Detective. Es entspannt mich, vor der Therapie etwas Wein zu mir zu
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