Im Saal der Toten
fragte mich, ob er auch nur im entferntesten in der Lage sei, jemanden in unwegsamem Gelände in den Tod zu schicken. Aber Mike und Mercer würden sicherlich noch darauf zu sprechen kommen.
»Fangen wir am besten von vorne an. Was ist der Rabenverein?«, fragte ich.
Zeldin rollte zu einer niedrigen Minibar. »Möchte jemand von Ihnen ein Glas Wein?«
Wir verneinten und warteten, während er sich einen Burgunder einschenkte.
»Der Verein wurde vor hundert Jahren gegründet, anlässlich Edgar Allan Poes fünfzigstem Todestag. Er ist als Geheimgesellschaft gedacht, und man kann nur auf Einladung Mitglied werden – ein rein wissenschaftlicher Tribut an den großen Dichter. Er wurde auf fünf Mitglieder begrenzt.«
»Fünf? Das ist ein ziemlich winziger Verein«, sagte Mike.
»Im Gegensatz zu vielen Schriftstellern der damaligen Zeit, die bestenfalls lange nach ihrem Tod berühmt wurden, wurde Poes Genie noch zu seinen Lebzeiten hier und im Ausland erkannt. Aber während seines kurzen Lebens erlitt er so viele Tragödien – so viele persönliche Kränkungen –, dass ihn nach seinem Tod nur fünf Männer zu Grabe trugen. Fünf Mann – einschließlich des Geistlichen, der das Begräbnis leitete. Damals schien es eine passende Zahl zu sein, um ihn zu ehren.«
»Und jetzt?«, fragte ich.
»Man kann nach wie vor nur auf Einladung Mitglied werden, Miss Cooper. Jetzt sind wir fünfundzwanzig.«
»Alle in New York?«
»Nein, nein. Aber ungefähr zwei Drittel davon.«
»Welche Kriterien muss man erfüllen, um Mitglied zu werden?«
»Wir suchen gelehrte Köpfe, Detective. Nicht unbedingt Akademiker, aber Leute, die sich intensiv mit Poe und seinem Werk – den Gedichten, Erzählungen, der Literaturkritik – beschäftigen. Liebhaber des Meisters.«
»Halten Sie auch Treffen ab?«
»Von Zeit zu Zeit – natürlich. Hauptsächlich Abendessen. Aber auch Vorträge und andere Veranstaltungen, wenn es einen wichtigen Anlass oder neue Forschungsergebnisse zu feiern gibt.«
»Könnten Sie uns eine Namensliste der Mitglieder geben?«, fragte ich.
Zeldin zögerte. »Diese Entscheidung liegt nicht bei mir. Ich bin im Moment nur der Geschäftsführer des Vereins. Da müsste ich zuerst –«
Mike fiel ihm ins Wort. »Ganz richtig. Die Entscheidung liegt nicht bei Ihnen. Hier geht es um eine Mordermittlung. Die Entscheidung liegt, glaube ich, bei Ms Cooper. Und der Grand Jury.«
Zeldin nippte an seinem Weinglas. »Ich will mich nicht quer stellen, Mr Chapman. Aber wir scheuen das Rampenlicht. Natürlich wollen wir Ihnen helfen, aber ich hätte gerne eine Zusicherung, dass wir nicht in die Schlagzeilen geraten.«
»Es ist unwahrscheinlich, dass etwas davon an die Öffentlichkeit gelangt«, sagte ich.
»Sie werden mir vermutlich nicht erzählen, was Sie über das Skelett im Poe-Haus wissen« – Zeldin lächelte angesichts unserer Reaktion – »und ob der Tod dieses Mannes – wie hieß er noch einmal, Ichiko? – etwas damit zu tun hat?«
»Wie wär’s, wenn Sie anfangen?«, sagte Mike. »Was wissen Sie über das Skelett?«
»Ich habe es Ihnen doch gesagt, Detective. Poe ist unsere Lebensaufgabe. Unser Verein beteiligte sich an dem – wie heißt das bei Ihnen, Ms Cooper? – dem ›Amicus-Brief‹, mit dem man verhindern wollte, dass die Universität das alte Haus abreißt. Als ich von dem Skelettfund las, war ich natürlich neugierig.«
»Warum ist das Haus so wichtig für Sie?«, fragte Mercer.
Zeldin seufzte. »Unter historischen – und kulturellen – Gesichtspunkten sollten die Wohnorte aller großen Persönlichkeiten unter Denkmalschutz gestellt werden. Im Januar 1845 wurde ›Der Rabe‹ veröffentlicht. Daraufhin wurde Poe endlich die Anerkennung und der Ruhm zuteil, nach dem er sich sehnte. Im gleichen Jahr zog er von Uptown – er wohnte damals auf Brennans Farm in den West Eighties – in das Haus in der 3. Straße. Haben Sie das Haus gesehen? Können Sie sich vorstellen, welche brillanten Texte in diesen winzigen, ungastlichen Räumen geschaffen wurden?« Zeldin hielt inne. »Aber wahrscheinlich ist Ihnen das egal. Für Sie ist es ja gut fürs Geschäft.«
»Was meinen Sie damit?«, fragte ich.
»Wenn wir den Prozess nicht verloren hätten und man das Haus nicht abreißen würde, dann – na ja, dann hätten Sie dieses Skelett nie gefunden. Es wäre für immer hinter der Ziegelmauer begraben gewesen, so wie es der Mörder beabsichtigt hatte.«
»Was wissen Sie über das Skelett? Und über die
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