Im Saal der Toten
gehen.«
»Und der Botanische Garten?«, fragte ich.
»Damals war er noch kein offizieller Botanischer Garten. Die ganze Gegend hier gehörte damals noch nicht einmal zur Bronx. Es war ein sehr ländliches Dorf, Teil des Bezirks Westchester, bekannt unter dem Namen Fordham.
Poe musste das Haus im Village, in dem man das Skelett gefunden hat, aufgeben, weil seine Frau tuberkulosekrank war. Die Ärzte erklärten ihm, dass sie nur in frischer Landluft überleben könne.«
»Also sind sie hierher gezogen?«
»Ja, Ma’am. In das kleine Farmhaus in der Kingsbridge Road, unweit der 192. Straße und dem Grand Concourse. Poe liebte es, spazieren zu gehen. Er streifte stundenlang in diesen Wäldern umher, die jetzt Teil des Botanischen Gartens sind. Oft ging er bis zu der Schlucht am Fluss, wo der Unfall passiert ist. Der Wasserfall faszinierte ihn besonders.«
»Das wissen Sie ganz sicher?«, fragte Mike.
»Möchten Sie seine Briefe lesen, Mr Chapman? Darin beschreibt er die Gegend in allen Einzelheiten, das Cottage, diesen Wald hier und die High Bridge, die das Wasser vom Croton-Aquädukt über den Harlem River nach Manhattan transportierte.«
»Seine Erzählung mit dem Titel ›Landors Landhaus‹?«, fragte ich vorsichtig.
»Jetzt kommen Sie langsam in Schwung, Miss Cooper. Darin beschreibt er das kleine Haus, das er für seine Familie gemietet hatte und das noch immer im Poe Park steht. Einhundert Dollar pro Jahr. Bei den Spaziergängen mit Blick über den Long Island Sound fand er seine Ruhe. Damals versperrten noch keine Hochhäuser die Sicht, und er konnte die Bucht von seiner Türschwelle aus sehen. Nicht weit von hier war ein Jesuitenkloster namens St. John’s –«
Mike fiel ihm ins Wort. »Ja. Das waren die Gründer des Fordham College.«
»Ganz genau, Mr Chapman. Er stattete den jesuitischen Gelehrten auf seinen Spaziergängen gerne einen Besuch ab, um mit ihnen zu diskutieren und ihre Bibliothek zu benutzen. Ich kann Ihnen auch dort gerne Zugang verschaffen.«
»Danke, ein anderes Mal. Aber jetzt verstehe ich, warum er eine Figur Montresor genannt hat«, sagte Mike.
Zeldin rechnete offensichtlich mit einer dummen Bemerkung.
»Sagt Ihnen der Name nichts?«, fragte Mike. »Kennen Sie Randall’s Island?«
Wir alle kannten die zwischen Manhattan und der Bronx gelegene Insel im East River.
»John Montresor war ein britischer Captain während des Revolutionskriegs. Er kaufte die Insel und ließ sich mit seiner Familie dort nieder, um für die Briten zu spionieren und sie bei der Invasion des Hafens von New York zu beraten. Er war Zeuge von Nathan Hales Hinrichtung. Wegen ihm kennen wir Hales letzte Worte.«
»›Ich bedauere‹«, zitierte Zeldin, »›dass ich nur ein Leben habe, das ich für mein Land opfern kann.‹ Ich bin beeindruckt, Mr Chapman. Poe brauchte sich scheinbar nur in seiner unmittelbaren Umgebung umzusehen, um Namen für seine Figuren zu finden.«
»Sie haben gestern von Poes tragischen Lebensumständen gesprochen. Würden Sie uns mehr darüber erzählen?« Ich hatte meinen Notizblock gezückt und hoffte, die relevanten Fakten später mit der Lebensgeschichte eines rachsüchtigen Killers abgleichen zu können, der sich möglicherweise zu sehr mit dem großen Schriftsteller identifizierte.
»Poes Großvater kämpfte im Revolutionskrieg und war, zumindest in Maryland, wo sich seine Familie niedergelassen hatte, ein gefeierter Kriegsheld. Aber sein Vater, David, war schon damals das schwarze Schaf der Familie.«
»In welcher Hinsicht?«
»Er brach gegen den Wunsch des Generals das Jurastudium ab und wurde Schauspieler. Und Alkoholiker. Außerdem heiratete er nicht standesgemäß, sondern ehelichte eine Frau aus dem niederen Volk. Durch und durch ein Taugenichts«, sagte Zeldin.
»Wer war seine Frau?«, fragte ich.
»Eine fahrende Schauspielerin namens Eliza. Eine junge Frau, die mit kleinen Theatertruppen herumtingelte und komische Jugendrollen und Naive spielte. Edgar war ihr zweites Kind und kam 1809 in Boston auf die Welt, wo Eliza zu der Zeit ein Engagement hatte.«
Ich musste mich immer wieder daran erinnern, dass Poe vor zweihundert Jahren gelebt hatte, auch wenn gewisse Ereignisse in seinem Leben für die jüngsten Morde verantwortlich zu sein schienen.
»Zwei Jahre später brachte sie noch eine Tochter zur Welt, aber da war David Poe schon verschwunden. Er war damals erst fünfundzwanzig Jahre alt.«
»Was meinen Sie mit ›verschwunden‹?«
»Genau das. Man hat
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