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Im Saal der Toten

Im Saal der Toten

Titel: Im Saal der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Fairstein
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nie wieder von ihm gehört. Ich kann Ihnen nicht sagen, was aus ihm geworden ist, wo er lebte oder wann er starb. Er verschwand einfach aus ihrem Leben. Seine Eltern in Baltimore wollten nichts von ihm wissen, er hatte hohe Schulden und drei Kleinkinder zu versorgen, er bekam als Schauspieler miese Kritiken, und er hatte ein ernsthaftes Alkoholproblem – also ließ er Eliza und die Kinder einfach sitzen.«
    »Das heißt, Poe kannte seinen Vater gar nicht?«, fragte ich. »Hat Eliza die Kinder allein aufgezogen?«
    Zeldin schüttelte den Kopf. »Sie erhielt keine Gelegenheit dazu. In den Lokalblättern stand viel über ihre ›privaten Schicksalsschläge‹. Von dem kleinen Mädchen wurde gemunkelt, dass es nicht von David Poe sei, und einige Monate später zog Eliza mit ihren drei Kindern nach Richmond, um ein neues Leben anzufangen. Aber kurz nach ihrer Ankunft wurde sie schwer krank und bettlägerig. Edgar war noch keine drei Jahre alt, als seine geliebte Mutter starb.«
    Ein zerrüttetes Elternhaus, Gerüchte über elterliche Untreue, Alkoholmissbrauch, und jetzt drei verwaiste Kinder – das klang, als hätte das Leben des Jungen einen katastrophalen Auftakt gehabt.
    »Wer hat die Kinder aufgezogen?«
    »Noch ein Schlag für die drei kleinen Waisen. Sie wurden auseinander gerissen. David Poe sen. – der Großvater väterlicherseits in Baltimore – erklärte sich bereit, den Ältesten zu sich zu nehmen, William Henry. Eine Familie in Richmond namens Mackenzie nahm sich des kleinen Mädchens, Rosalie, an. Edgar war am schwersten unterzubringen.«
    »Mit drei Jahren?«
    »Ja, Miss Cooper. Aber ein wohlhabender Händler in Richmond ließ sich von seiner Frau überzeugen, Edgar bei sich aufzunehmen. Sie selbst waren kinderlos. Er wurde ein Mündel von John und Frances Allan –«
    »Daher also der Name Allan«, sagte Mike. »Ich bin immer davon ausgegangen, dass es von Geburt an sein Mittelname war. Ich wusste nicht, dass er adoptiert worden war.«
    »Bei einer Adoption hätte er es wohl leichter gehabt, Mr Chapman. John Allan war ein strenger Zuchtmeister. Er weigerte sich, den Jungen zu adoptieren. Allan war ein überzeugter Selfmademan und verwies auf seine eigenen Entbehrungen, um dem jungen Edgar einzubläuen, dass einem im Leben nichts geschenkt wurde. So nach dem Motto ›Warum sollte ich es dir leicht machen, wenn ich selbst so schwer kämpfen musste‹? Folglich gab er der Familie Poe lediglich das Versprechen, dass er dem Jungen eine gute Allgemeinbildung angedeihen lassen würde.«
    »Scheint, als hätte er sich wenigstens an den Teil der Abmachung gehalten«, sagte Mercer.
    »Ja, sie sind sogar für eine Weile nach England gezogen, damit Edgar dort auf die Schule gehen konnte. Mit sieben schickten sie ihn ein Jahr lang nach Schottland aufs Internat, wo er ziemlich einsam war. Fünf Jahre später, nachdem John Allans Geschäfte nicht so liefen wie erwartet, zogen sie wieder nach Richmond. Wissen Sie über seine Studienzeit in Charlottesville Bescheid?«
    »Ein bisschen«, sagte ich.
    »Mr Jeffersons großartige Universität existierte damals gerade ein Jahr. Edgar war siebzehn und wohnte in einem Zimmer am Lawn, das man noch heute besichtigen kann.«
    »Ja, ich weiß. Zimmer Nummer dreizehn.«
    »Abergläubisch, Miss Cooper? Na ja, vielleicht hätte seine Zeit dort so oder so unter einem schlechten Stern gestanden. Poe liebte Sprachen. Er studierte Französisch, Italienisch und Latein. Er engagierte sich im Debattierklub und war ein großartiger Schwimmer. Er schrieb Gedichte und fertigte Kohlezeichnungen an. Das war die schöne Seite seines Studentenlebens in Virginia. Aber es gab auch eine weniger erfreuliche Seite.«
    »Was meinen Sie damit?«
    »Die Universität von Virginia war damals ohnehin das teuerste College im Land, aber zusätzlich zu seinen sonstigen Unkosten entwickelte Edgar Poe auch noch eine ernsthafte Spielsucht und verschuldete sich um mehrere tausend Dollar. Wie sein Vater verfiel auch er immer mehr dem Alkohol. Er spielte Karten und trank, trank und spielte Karten.«
    »Hat er das Studium beendet?«, fragte ich.
    »Damals dauerte das Studium zwei Jahre. Er ging nach einem Jahr von der Uni ab, was den endgültigen Bruch mit John Allan bedeutete, der sich weigerte, seine Schulden zu bezahlen und ihn nicht mehr an die Uni zurückkehren ließ. Sie stritten heftiger als je zuvor, und Edgar war sich schmerzlich bewusst, wie er in seinen Briefen häufig schrieb, dass sein Ziehvater absolut

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