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Im Saal der Toten

Im Saal der Toten

Titel: Im Saal der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Fairstein
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keine Zuneigung zu ihm empfand.«
    »Wie schmerzhaft für einen jungen Mann, der ohnehin keine Familie mehr hatte. Seltsam, dass Poe dennoch seinen Namen verwendete!«
    »Sie irren sich, Miss Cooper. Wir verwenden seinen Namen – Edgar hat das fast nie getan.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    »Soviel wir wissen, hat Poe erst Jahre später, nach John Allans Tod, das erste Mal mit dem Namen Allan unterschrieben. Er hat oft die Initiale A benutzt, wenn er etwas veröffentlicht hat, aber selten den Namen Allan , so wie wir es heute tun. Ich bin der festen Überzeugung, dass er den Mann hasste.«
    Ich dachte an die durch die Reproduktionen der Bücher und Manuskripte so vertraute Unterschrift. Zeldin hatte Recht. Sie lautete Edgar A. Poe – den Namen Allan hatte Poe nie in seiner eigenen Handschrift ausgeschrieben. »Also ging Poe aus Richmond weg?«
    »Mit achtzehn stand er wieder allein da, und war rastlos. Er ging nach Boston – wahrscheinlich weil seine Mutter geschrieben hatte, wie sehr sie die Stadt liebte. Dort erschien 1827 ein vierzigseitiges Lyrikbändchen mit dem Titel Tamerlan , in braunes Papier geschlagen und von einem anonymen Autor in der Stadt verteilt.«
    »Poes erste Veröffentlichung?«
    »Ganz genau, Miss Cooper. Er hat keine einzige Ausgabe signiert und nicht einmal eine für sich behalten. Heute existieren davon nur noch eine Hand voll. Es ist kein Geheimnis, dass eins unserer Mitglieder letztes Jahr bei einer Auktion ein Exemplar für 600000 Dollar erstanden hat. Aber das ist heute. Wie Sie wissen, kann von Lyrik kaum jemand leben. Also schlug Poe einen anderen Weg ein – er gab sich für einundzwanzig aus, sagte, sein Name wäre Edgar Perry, und meldete sich freiwillig zur Armee.«
    Davon hatte Mike noch nie gehört. »Musste er sich da nicht auf fünf Jahre verpflichten? Das war doch damals die Norm, oder?«
    »Richtig, Detective. Aber er hatte sich das Leben als Soldat anders vorgestellt und wollte nach zwei Jahren wieder raus aus der Armee. Er dachte sich eine falsche Familiengeschichte aus – heute würden Sie es wohl Meineid nennen –, nur um in West Point aufgenommen und Offizier zu werden.«
    »Poe war tatsächlich auf der Militärakademie?«, fragte Mike.
    »Er war eineinhalb Jahre lang Kadett, bis er wegen groben Pflichtversäumnis’ und Ungehorsams vors Kriegsgericht gestellt wurde. Er wurde unehrenhaft und mit hohen Schulden aus der Armee entlassen.«
    »Und dann?«, fragte ich.
    »Er trieb heimatlos umher, schrieb Gedichte und landete schließlich in Baltimore, wo die Familie seines Vaters wohnte.«
    »Lebte sein älterer Bruder auch noch dort?«
    »Das Wiedersehen war von kurzer Dauer. Bald nach Edgars Ankunft in Baltimore starb sein Bruder – an Maßlosigkeit, wie man es damals nannte.«
    »Maßlosigkeit?«, fragte ich.
    »Alkohol, Miss Cooper. William Henry Poe trank sich im Alter von vierundzwanzig Jahren zu Tode.«
    »Was für eine schreckliche Geschichte! Hat Edgar Kontakt zu anderen Familienmitgliedern aufgenommen?«, fragte Mercer.
    »Manche würden das Wort ›Kontakt‹ für untertrieben halten, Mr Wallace«, sagte Zeldin. »Edgars Vater David hatte eine verwitwete Schwester namens Maria Poe Clemm, die mit ihren beiden Kindern – ihrem Sohn Henry und ihrer neunjährigen Tochter Virginia – in Baltimore wohnte. Edgar zog bei seiner armen Tante Maria und seinen Cousins ein – die erste wirkliche Familie, die er in seinem Leben gekannt hatte.«
    »Klingt, als wäre endlich etwas Stabilität in sein Leben gekommen«, sagte ich. »War er in der Zeit produktiv?«
    »Literarisch gesehen ja. Er veröffentlichte mehrere Erzählungen im Southern Literary Messenger . Schauergeschichten über Begräbnisse am lebendigen Leib, körperlichen Verfall und Verwesung, Alkoholismus, die Endgültigkeit des Todes. Man kann nur ahnen, wie die tragischen Ereignisse in seiner Jugend seine Fantasie angeregt haben.« Zeldin zögerte. »Außerdem hatte er sich verliebt.«
    »Vor diesem rosigen Hintergrund? Wer war die Glückliche?«, fragte Mike.
    »Seine Cousine, Detective. Die kleine Virginia Clemm.«
    Mike schlug sich aufs Knie. »Was? Die Neunjährige?«
    »Er hat gewartet, Mr Chapman.« Zeldin wackelte mit dem Finger und lächelte schief. »Er heiratete sie erst, als sie dreizehn war.«
    »Und Poe selbst?«
    »Siebenundzwanzig.«
    »Himmel, Arsch und Zwirn!«, rief Mike und errötete. »Und da hat man Jerry Lee Lewis für einen Perversen gehalten! Roman Polanski war den Rest seines Lebens

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