Im Schatten der Drachen (MYTHENLAND - Band 1 bis 5 komplett) (German Edition)
manche von ihnen rempelten sich an. Einige Stimmen waren laut, andere leise, manch einer flüsterte, einzelne weinten.
»Der letzte Hort der Verlorenen«, wisperte Darius. »Von hier aus müssen sie in die Verbannung gehen.«
»Wer entscheidet das?«, wisperte Bluma zurück.
»Das Schicksal.«
»Ich glaube nicht an Schicksal.«
»Lass es vorerst gut sein, kleine Barb. Darüber können wir später sprechen.« Darius klang etwas genervt und hatte sie nicht bei ihrem Namen genannt. Vermutlich war dies der falsche Augenblick, um Fragen zu stellen oder eine Diskussion über das Schicksal zu führen.
Und warum, fragte sie sich, war Darius so vorsichtig? Das wenige, was sie sehen konnte, wirkte harmloser, als vieles, was ihnen bisher begegnet war. Die seltsamen Gestalten machten einen gekrümmten Eindruck, wirkten verloren, zwar zornig und voller Furcht, jedoch auch hilflos. Dafür sprachen die vielen Tränen, die vergossen wurden, wie Bluma unschwer vernahm. Sie bekam Mitleid und wäre am liebsten aufgesprungen, um die Kreaturen zu trösten, um ihnen zu sagen, sie mögen sich bitte vorsehen und Rücksicht auf die Schwächeren nehmen, in die blinden Augen schauend, mit ruhigen Worten Hilfe leistend.
»Ich weiß, was du denkst«, flüsterte Darius. »Spürst du, dass du weinst?«
Bluma blinzelte. Tatsächlich. Tränen standen in ihren Augen. Sie trocknete sie mit dem Handrücken ab.
Darius flüsterte: »Du siehst das, was du sehen sollst. So, wie die da unten sich selbst gewahr sind. Das sind Trugbilder. Du nimmst ihr Selbstmitleid war, das sie nicht verdient haben. Du empfindest ihre Schwäche und ihre Trauer, obwohl sie keinen Grund zur Trauer haben.«
»Ich sehe also mit den Augen des Betrachters?«
»Wie bitte?«
»So, wie man eine Person schön findet, obwohl sie für andere nicht schön ist?«
Darius brummelte. »So ungefähr.«
»Und was würden andere sehen? Was siehst du?«
»Ich sehe das Grauen. Das pure Grauen!«
Nein, das Grauen nahm Bluma nicht wahr. Jedoch sie sah etwas anderes. Zuerst traute sie ihren Augen nicht und hätte um Haaresbreite einen Ruf ausgestoßen. Sie keuchte und unterdrückte den Laut. Darius’ Kopf wirbelte herum. Seine Miene wirkte gespannt und von Angst gezeichnet.
Existierte so etwas wie Realität? Oder war das, was hier vor ihnen geschah, das Ergebnis der individuellen Wahrheit?
Bluma schob sich nochmals etwas nach vorne und blinzelte in die Höhle hinein.
Tatsächlich! Sie hatte sich nicht geirrt.
Handelte es sich um ein Spukbild?
Sah Darius dasselbe?
An den Wänden Behausungen, umher irrende Kreaturen, es mussten hunderte sein, und in der Mitte, auf dem Trockenen, ein großes Ding mit zerfetzten Segeln an zwei Masten.
Ein schwarzes Schiff!
Darius zitterte und bebte.
Bluma drückte sich an ihn. Er tat ihr Leid. Was er wahrnahm, musste grauenvoll sein. Offensichtlich wollte er nicht darüber reden.
»Was sollen wir tun?«, fragte Bluma leise.
Darius keuchte. »Wir – wir – müssen aufstehen. Wir – müssen da durch. Wir müssen zum Schiff. Von dort aus – von dort aus geht es – geht es weiter.«
»Einfach so zum Schiff?« fragte sie überflüssigerweise nach.
Er nickte hart. Kalter Schweiß lag wie eine zweite Haut auf seinem entblößten Oberkörper. »Ja« Seine Stimme war rau. »Egal, was wir erleben, wie uns dabei ist... wir müssen uns den Bildern stellen.«
»Also ist alles nur ein Zerrbild unserer Phantasie?«, fragte Bluma.
»Sie werden – sie werden uns vermutlich nichts antun.«
»Wer?« Vielleicht sagte er jetzt, was er sah.
»Die Scheusale, die Monster, die Seelenverschlinger und Gedankenesser.«
Meinte er tatsächlich diese hilflos wirkenden Gestalten?
»Wir sehen unterschiedliche Dinge, Darius.«
»Genau das ist das Problem. Was dort tatsächlich ist, wissen wir nicht. Wir nehmen die Schwingungen dessen wahr, was sich dort befindet, es spiegelt unsere eigenen Vorstellungen.« Seine Stimme gewann Sicherheit.
»Und das Schiff? Ist das Schiff real?«
Er bejahte.
»Also müssen wir uns unseren innersten Ängsten stellen?«
»Nur dann, wenn man Angst empfindet.«
Tatsächlich hatte Bluma keine Furcht, wenigstens nicht viel. In ihr wuchs das Bedürfnis, den armseligen Kreaturen zu helfen, ein Drang, dem sie kaum wiederstehen konnte. »Sie brauchen uns«, flüsterte sie. »Ohne uns können sie nicht entkommen.«
Darius lachte hart. Seine Mundwinkel verzerrten sich zynisch. »Wohin sollen sie entkommen? Bei den Göttern,
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