Im Schatten der Gerechtigkeit
sich verengten. Rathbone lächelte. »Ich sehe schon, was Sie denken. Und Sie haben recht. Es handelt sich um Sir Herbert Stanhope. Ich weiß sehr wohl, daß Sie es waren, der Prudence Barrymores Briefe an ihre Schwester gefunden hat.«
Monks Brauen hoben sich. »Und dennoch bitten Sie mich darum, ihren Inhalt zu widerlegen?«
»Nicht darum, ihren Inhalt zu widerlegen«, widersprach Rathbone. »Nur darum, aufzuzeigen, daß Miss Barrymores Schwärmerei für Sir Herbert nicht bedeutet, daß er sie umgebracht hat. Es gibt noch weitere, ausgesprochen glaubwürdige Möglichkeiten, von denen sich durchaus eine als wahr erweisen könnte.«
»Und, sind Sie mit der bloßen Möglichkeit zufrieden?« fragte Monk. »Oder wollen Sie von mir auch gleich einen Beweis für die Alternative?«
»Zuerst die Möglichkeit«, sagte Rathbone trocken. »Dann, wenn Sie die haben, träfe sich ein Beweis ausgezeichnet. Es ist unbefriedigend, lediglich für Zweifel zu sorgen. Man kann sich nicht darauf verlassen, daß die Geschworenen ihn deswegen freisprechen, und mit Sicherheit rettet es nicht den Ruf des Mannes. Ohne die Verurteilung eines anderen ist er praktisch ruiniert.«
»Halten Sie ihn denn für unschuldig?« Monk sah Rathbone mit brennendem Interesse an. »Oder ist das etwas, was Sie mir nicht sagen können?«
»Ich halte ihn für unschuldig«, antwortete Rathbone freimütig. »Ich habe zwar keinen Grund dafür, aber ich glaube es. Sind Sie denn von seiner Schuld überzeugt?«
»Nein«, antwortete Monk, so gut wie ohne zu zögern.
»Eigentlich nicht, trotz der Briefe.« Sein Gesicht verfinsterte sich, während er weitersprach. »Es sieht ganz so aus, als hätte sie für ihn geschwärmt, und vielleicht war er sogar geschmeichelt und töricht genug, sie zu ermutigen. Aber wenn man so überlegt – und ich habe mir das alles gründlich durch den Kopf gehen lassen –, dann scheint mir ein Mord eine ziemlich hysterische Reaktion auf die zweifelsohne peinlichen, aber keinesfalls gefährlichen Gefühle einer jungen Frau. Selbst wenn sie noch so in ihn verliebt war«, er sagte das, als spreche er von einer Geschmacklosigkeit, »so konnte sie doch nichts weiter tun, als ihn in eine gewisse Verlegenheit zu bringen.« Er schien sich in sich zurückzuziehen, und Rathbone sah, daß ihn die Gedanken schmerzten. »Ich hätte angenommen, daß ein hervorragender Mann wie er, der ständig mit Frauen arbeitet«, fuhr er fort, »schon öfter in eine ähnliche Situation geraten wäre. Ich teile zwar nicht Ihre Gewißheit, was seine Unschuld anbelangt, aber ich bin sicher, daß an der Geschichte mehr dran ist, als wir bisher entdeckt haben. Ich nehme Ihren Auftrag an. Es interessiert mich sehr, was ich sonst noch in Erfahrung bringen kann.«
»Wie wurden Sie denn überhaupt in die Angelegenheit verwickelt?« fragte Rathbone neugierig.
»Lady Callandra bat mich, mir den Fall etwas näher anzusehen. Sie sitzt im Verwaltungsrat des Hospitals und hatte große Hochachtung für Prudence Barrymore.«
»Und sie ist mit dieser Antwort zufrieden?« Rathbone machte sich nicht die Mühe, seine Überraschung zu verbergen. »Man hätte doch meinen mögen, als Verwaltungsrätin wäre sie erpicht darauf, Sir Herbert zu entlasten! Der Mann ist fraglos eine große Attraktion. Jeder andere wäre entbehrlicher als er.«
Zweifel verdüsterten Monks Blick. »Ja«, sagte er langsam.
»Sie schien sehr zufrieden. Sie hat mir gedankt, mich bezahlt und mich von dem Fall entbunden.«
Rathbone sagte nichts, sein Kopf war voller Mutmaßungen, die zu keinem Schluß führten, ein beunruhigender Gedanke verschmolz mit dem anderen.
»Hester glaubt nicht, daß es die Antwort ist«, fuhr Monk einen Augenblick später fort.
Der Name erregte schlagartig Rathbones Aufmerksamkeit.
»Hester? Was hat sie denn damit zu tun?«
Monk senkte die Mundwinkel zu einem Lächeln. Er betrachtete Rathbone belustigt, und Rathbone hatte den unangenehmen Verdacht, daß ihm seine komplizierten und äußerst persönlichen Gefühle für Hester ins Gesicht geschrieben standen. Sie hatte sich doch Monk nicht etwa anvertraut? Das wäre einfach zu… nein, natürlich nicht, das würde sie nicht tun. Er verwarf den Gedanken. Er war ebenso beunruhigend wie anstößig.
»Sie kannte Prudence von der Krim her«, antwortete Monk. Schwester Barrymores Vornamen so einfach hingesprochen zu hören bestürzte Rathbone. Er hatte sie bislang immer nur als das Opfer gesehen; seine Sorge hatte ganz und gar Sir
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