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Im Schatten der Gerechtigkeit

Im Schatten der Gerechtigkeit

Titel: Im Schatten der Gerechtigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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ungezählter Jahre, schon lange vor dem Tod ihres Gatten: all die Male, in denen er zu forsch gewesen war, nur sich selbst gesehen hatte – nicht unfreundlich, aber einfach nicht in der Lage, den Unterschied zwischen ihnen zu überbrücken.
    »Es ist nur diese unselige Geschichte um die Schwester«, sagte sie und blickte zu Boden. »Und der Prozeß. Ich weiß nicht, was ich denken soll, und ich nehme mir diese ganze Geschichte mehr zu Herzen, als ich sollte… Tut mir leid. Bitte vergeben Sie mir, daß ich auch noch allen anderen damit zur Last falle, wo wir doch alle schon genug an unserem eigenen Kreuz zu tragen haben.«
    »Ist das alles?« fragte er neugierig und hob seine Stimme leicht an.
    »Ich hatte sie gern«, antwortete sie und sah zu ihm auf, weil wenigstens das die Wahrheit war. »Und sie erinnert mich an eine junge Frau, an der mir sogar noch mehr gelegen ist. Ich bin nur einfach müde. Morgen wird es mir schon wieder besser gehen.« Sie zwang sich zu einem Lächeln, auch wenn sie das Gefühl hatte, daß es grauenhaft aussehen mußte.
    Er erwiderte das Lächeln mit einem traurigen, sanften Blick und sie hätte nicht sagen können, ob er ihr auch nur ein Wort glaubte. Eines war gewiß, sie konnte ihn unmöglich nach Marianne Gillespie fragen. Sie hätte die Antwort einfach nicht ertragen!
    Sie erhob sich und ging rückwärts zur Tür. »Ich danke Ihnen, daß Sie Mr. Burke übernehmen. Ich war mir sicher, daß ich mich auf Sie verlassen kann.« Damit griff sie nach dem Türgriff, schenkte ihm noch ein letztes mattes Lächeln und floh.
    Sir Herbert drehte sich im selben Augenblick um, in dem Rathbone zur Zellentür hereinkam. Im Gerichtssaal hatte Sir Herbert, von wenigen Augenblicken abgesehen, den Eindruck erweckt, als habe er sich leidlich unter Kontrolle, jetzt jedoch, aus der Nähe, im harten Tageslicht des einzigen Fensters unter der Decke, sah er abgehärmt aus. Sein Gesicht schien teigig, außer um die Augen, um die er dunkle Ränder hatte, als hätte er bestenfalls unruhig geschlafen.
    Er war Entscheidungen über Leben und Tod gewohnt und mit der körperlichen Gebrechlichkeit des Menschen nicht weniger vertraut als mit übermäßigen Schmerzen oder dem Tod. Aber er war es auch gewohnt, das Kommando zu haben; er war derjenige, der handelte, der die Entscheidungen fällte, von denen das Schicksal des anderen abhing. Diesmal war er hilflos. Es war Rathbone, der das Heft in der Hand hatte, nicht er, und es machte ihm angst. Sie sprach aus seinen Augen, aus der Art, wie er den Kopf bewegte, ja selbst aus dem Geruch in dem kleinen Raum.
    Rathbone war es gewohnt, Leuten Mut zu machen, ohne ihnen tatsächlich etwas zu versprechen. Es gehörte zu seinem Beruf. Bei Sir Herbert war das schwieriger als gewöhnlich. Er kannte die üblichen Phrasen. Und er hatte allen Grund, Angst zu haben.
    »Es läuft nicht sehr gut, stimmt’s?« fragte Sir Herbert ohne Umschweife, sein Blick fest auf Rathbones Gesicht. Angst und Hoffnung spiegelten sich darin.
    »Es ist noch etwas zu früh, das zu sagen«, beschwichtigte Rathbone ihn, wollte ihn jedoch nicht belügen. »Aber es stimmt, es ist uns bisher nicht gelungen, der Anklage einen ernsthaften Schlag zu versetzen.«
    »Er kann aber doch nicht beweisen, daß ich sie ermordet habe.« Ein Hauch von Panik klang in Sir Herberts Stimme an. Sie hörten ihn beide. Sir Herbert errötete. »Ich war es nicht. Die Behauptung, ich hätte eine romantische Beziehung zu ihr gehabt, ist einfach absurd! Wenn Sie die Frau gekannt hätten, wäre Ihnen dies nie und nimmer in den Sinn gekommen! Sie war einfach… sie war einfach nicht so – noch nicht einmal annähernd! Ich weiß nicht, wie ich es noch deutlicher sagen sollte.«
    »Können Sie sich eine andere Erklärung für ihre Briefe denken?« fragte Rathbone ohne große Hoffnung.
    »Nein! Kann ich nicht. Das ist ja das Beängstigende! Das Ganze ist ein Alptraum.« Die Angst ließ seine Stimme lauter und schärfer werden. Rathbone brauchte ihm nur ins Gesicht, in die Augen zu sehen, um ihm zu glauben. Er hatte Jahre damit zugebracht, sein Urteilsvermögen zu verfeinern und immer wieder seine berufliche Reputation darauf gesetzt. Sir Herbert Stanhope sagte die Wahrheit. Er hatte nicht die geringste Vorstellung, wovon Prudence Barrymore gesprochen hatte, und es war eben diese Verwirrtheit, die Tatsache, nichts zu wissen, die ihm am meisten angst machte – jegliche Realität war ihm abhanden gekommen: Ereignisse, die er weder verstand

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