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Im Schatten der Gerechtigkeit

Im Schatten der Gerechtigkeit

Titel: Im Schatten der Gerechtigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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französischen Kaiser, und doch lief die Flotte schweigend und mit Trauerbeflaggung ein – weil Nelson gefallen war.« Mit einem von Erinnerungen verschleierten Blick starrte sie an Monk vorbei hinaus in den Garten. »Mein Vater kam herein, meine Mutter sah sein Gesicht, und das Lächeln verging uns. ›Was ist los?‹ fragte sie sofort.
    ›Haben wir verloren?‹ Meinem Vater liefen die Tränen über die Wangen. Es war das einzige Mal, das ich ihn habe weinen sehen.«
    Ihr Gesicht leuchtete noch immer vor Staunen darüber, die zahllosen Falten und Fältchen erfuhren durch die Unschuld ihrer jugendlichen Gefühle eine zarte Änderung.
    »›Nelson ist tot‹, sagte mein Vater ernst. ›Haben wir den Krieg verloren?‹ fragte meine Mutter. ›Wird Napoleon bei uns einfallen?‹
    ›Nein‹, antwortete mein Vater. ›Wir haben gewonnen. Die französische Flotte ist vernichtet. Von denen landet nie wieder einer an Englands Küste.‹« Sie verstummte und starrte Monk an; sie musterte ihn, um zu sehen, ob ihm die Größe dessen bewußt war, was sie da sagte.
    Ihre Blicke trafen sich, und sie merkte, daß er ihre Vision sah.
    »Die Nacht vor Waterloo habe ich durchgetanzt««, fuhr sie begeistert fort, und Monk stellte sich die Farben vor, die Musik, die fliegenden Röcke, die sie noch immer vor Augen hatte. »Ich war mit meinem Gatten in Brüssel. Ich habe mit dem Eisernen Herzog persönlich getanzt.« Das Lachen verschwand aus ihrem Gesicht. »Und dann, tags darauf, natürlich die Schlacht.« Ihre Stimme war plötzlich heiser, und sie blinzelte heftig. »Und den ganzen Abend über kamen die Meldungen über die Gefallenen herein. Der Krieg war vorbei, der Kaiser für immer besiegt. Es war der größte Sieg, den Europa je gesehen hat, aber, lieber Gott, wie viele junge Männer sind da gefallen! Ich glaube nicht, daß ich auch nur einen gekannt habe, der damals nicht jemanden verloren hätte – entweder durch den Tod oder durch eine Verletzung, von der sich der Betreffende nie wieder erholte.«
    Monk hatte das Blutbad gesehen, das der Krimkrieg angerichtet hatte, er wußte, was sie meinte, auch wenn es letztlich nicht zu vergleichen war, aber der Schmerz war der gleiche. In gewissem Sinn war der Krimkrieg sogar noch schlimmer gewesen, weil er keinen erkennbaren Sinn gehabt hatte. England war nicht bedroht gewesen wie seinerzeit durch Napoleon.
    Sie sah den Aufruhr und den Zorn auf seinem Gesicht. Und mit einemmal war ihr eigener Kummer verschwunden. »Und natürlich kannte ich Lord Byron«, fuhr sie plötzlich leidenschaftlich fort. »Was für ein Mann! Das war ein Dichter! Und so was von schön!« Sie lachte leise auf. »So wunderbar romantisch und gefährlich! Und was für einen herrlichen Skandal das damals gab! Und glühende Ideale, für die die Männer sich damals noch einsetzten!« Sie schnappte wütend nach Luft, die alten Hände ballten sich in ihrem Schoß zu Fäusten. »Und was haben wir heute? Tennyson!«
    Sie stöhnte und sah Monk gleich darauf wieder lächelnd an.
    »Ich nehme an, jetzt wollen Sie aber endlich den Gärtner wegen Ihres Spanners sehen? Na, dann laufen Sie mal, meinen Segen haben Sie.«
    Er lächelte sie mit aufrichtiger Hochachtung an. Es wäre ihm weitaus angenehmer gewesen zu bleiben und sich ihre Reminiszenzen anzuhören, aber die Pflicht rief.
    Er stand auf. »Ich danke Ihnen, Madam. Die Höflichkeit zwingt mich dazu, andernfalls würden Sie mich nicht so schnell los.«
    »Ha! Wie hübsch Sie das sagen, junger Marin«, nickte sie.
    »Ihrem Gesicht nach zu urteilen, steckt mehr in Ihnen als die Jagd nach Trivialitäten, aber das ist Ihre Sache. Ich wünsche Ihnen noch einen guten Tag.«
    Mit einer leichten Verbeugung verabschiedete er sich. Weder der Gärtner, noch das Spülmädchen konnten ihm etwas sagen, was ihm auch nur irgendwie weitergeholfen hätte. Sie hatten keine Fremden in der Gegend gesehen. Einen Zugang zum Garten von Nummer vierzehn gab es nicht, es sei denn, man entschied sich für die Mauer, und an den Blumenbeeten hatte man weder auf der einen, noch auf der anderen Seite Schäden oder Ungewöhnliches festgestellt. Der Spanner, wenn es denn tatsächlich einen gab, mußte einen anderen Weg genommen haben.
    Auch der Bewohner von Nummer zwölf war keine Hilfe. Er war ein pedantischer kleiner Mann mit grauem schütterem Haar und goldgefaßten Augengläsern. Nein, er habe in der Gegend niemanden gesehen, den er nicht kenne und der nicht von hervorragendem Charakter sei. Und nein,

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