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Im Schatten der Giganten: Roman

Im Schatten der Giganten: Roman

Titel: Im Schatten der Giganten: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Tallerman , Andreas Brandhorst
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blass wie zuvor, und seine Bewegungen schienen weniger schmerzhaft zu sein als noch vor einigen Stunden.
    Ich führte ihn zum vorderen Wagen, wo Estrada damit beschäftigt war, einige Seile zu verknoten. Als sie uns kommen hörte, drehte sie sich um und lächelte. »Ihr seht besser aus, Salzleck«, sagte sie. »Leider haben wir nicht genug Platz auf dem Wagen für Euch. Könnt Ihr nebenherlaufen?«
    Zwar bekam sie nur ein Nicken, aber ich spürte, dass Salzleck die höfliche Anrede zu schätzen wusste. Er blieb stehen und nahm die für ihn typische Ruheposition ein: Beine auseinander, Füße gespreizt, den Blick in die Ferne gerichtet. Ich gewann den Eindruck, dass er tagelang so stehen konnte, wenn es notwendig sein sollte. Was mich persönlich betraf … Mir gefiel die Vorstellung, auf einem Wagen zu sitzen. Ich war auf dem Rücken eines Pferds unterwegs gewesen, auf dem eines Riesen und auf meinen eigenen wunden Füßen, und deshalb war die Reise mit einem Wagen eine willkommene Abwechselung, die an Luxus grenzte. Ich kletterte hinauf und nahm mit einem zufriedenen Brummen Platz. Wenn ich Estrada und ihrem Haufen bis auf Weiteres Gesellschaft leisten musste, so konnte ich es wenigstens bequem haben.
    Estrada blickte an der Karawane hinter uns entlang und gelangte offenbar zu dem Schluss, dass alles bereit war. »Abmarsch!«
    Es stellte sich bald heraus, dass von »Marschieren« keine Rede sein konnte. Zweihundert Betrunkene, die sich durch einen Sumpf den Weg nach Hause suchten, hätten einen ähnlichen Anblick geboten. Die Alten und Verwundeten wurden schnell von den Jungen und Kräftigen überholt, und dadurch geriet alles durcheinander. Die mit den Eigenarten des Bergweges konfrontierten Wagenlenker liefen ständig Gefahr, dass ihre Karren umkippten oder über zu nahe Füße rollten. Die meisten Pferde waren ganz offensichtlich nicht an die Nähe so vieler Menschen gewöhnt und scheuten immer wieder.
    Während der ersten beiden Stunden fanden keine Gespräche statt, weil nur gerufen und geflucht wurde. Alle Anstrengungen waren darauf konzentriert, die Karawane einigermaßen in Bewegung zu halten und zu verhindern, dass jemand ernsthaft zu Schaden kam.
    Ich für meinen Teil genehmigte mir das eine oder andere Nickerchen; wenn der Wagen zu sehr wackelte, beobachtete ich die chaotische Karawane hinter uns. Ich nahm gelegentlich einen Schluck aus meinem Weinschlauch, knabberte an einem Stück Ziegenkäse und stellte im Großen und Ganzen fest, dass sich meine Stimmung besserte. Seit meiner kurzen Gefangenschaft war ich nicht mehr so nahe daran gewesen, mich zu entspannen. Diesen angenehmen Zustand wollte ich nicht durch Gedanken an eine ungewisse Zukunft ruinieren.
    Estrada hingegen schien einem Nervenzusammenbruch nahe zu sein. Alles deutete darauf hin, dass sie kaum Erfahrung im Umgang mit einem Wagen hatte und auch nicht das Temperament von Arbeitstieren verstand. Es dauerte nicht lange, bis die beiden Pferde vor uns – sie waren starrsinnig genug, um Verwandte der beiden Maultiere zu sein, die ich zuvor kennengelernt hatte – Worte zu hören bekamen, die eigentlich nicht aus dem Mund einer Dame kommen sollten. Wenn Estrada nicht fluchte, saß sie mit zusammengebissenen Zähnen da und starrte wie gebannt auf den Weg, als befürchtete sie, er könne von einem Augenblick zum anderen verschwinden.
    Nach einem besonders leidenschaftlichen Wortschwall sagte ich: »Soll ich übernehmen?«
    »Ich werde schon damit fertig.«
    »Du kannst kaum noch die Augen offen halten. Wenn du so weitermachst wie bisher, stürzt unser Wagen als erster in die Tiefe.«
    Sie warf mir einen Blick zu, der darauf hinwies, dass sie mich am liebsten mit den Zügeln erdrosselt hätte.
    »In Ordnung, ich sollte dein Geschick als Wagenlenkerin vielleicht nicht infrage stellen. Du kommst ganz gut klar für eine Frau, die seit wer weiß wie lange nicht geschlafen und nichts gegessen hat. Glaub mir, das kann man nur für eine gewisse Zeit durchhalten, und ich möchte lieber nicht neben dir sitzen, wenn du schließlich zusammenklappst.«
    »Du kannst gerne gehen.« Dann seufzte Estrada und fügte etwas sanfter hinzu: »Na schön. Nur für eine Stunde. Dann weckst du mich, und wir halten an. Hinter uns gibt es reichlich Leute, die noch dringender Ruhe brauchen als ich.«
    Sie gab mir die Zügel und hatte sich kaum zurückgelehnt, als ihr Kopf auch schon zur Seite kippte und sie zu schnarchen begann.
    Zuerst hatte ich mit den widerspenstigen

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