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Im Schatten der Giganten: Roman

Im Schatten der Giganten: Roman

Titel: Im Schatten der Giganten: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Tallerman , Andreas Brandhorst
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sie seiner Meinung nach mit den Kranken und Verwundeten machen konnte. Stattdessen schluckte er die Worte hinunter, gab dabei ein würgendes Geräusch von sich und brummte: »Es geht auf deine Kappe, Marina.«
    »Glaubst du vielleicht, das wüsste ich nicht?«
    Estrada ließ den Rastenden noch zehn weitere Minuten Zeit, bevor sie zu ihrem Wagen zurückkehrte und rief: »Es geht weiter!«
    Diesmal klagte niemand. Alle standen auf und setzten sich in Bewegung, als wollten sie Estrada auf diese Weise unterstützen. Ich fragte mich, ob sie und Mounteban sich abgesprochen und diese Szene vorbereitet hatten, als eine schlaue Version von »Guter Wächter, böser Wächter«. Aber um so etwas durchzuziehen, hätte sie eine außergewöhnlich gute Schauspielerin sein müssen, und angesichts der dunklen Wolke über ihrem Gesicht hielt ich das für unwahrscheinlich.
    Im Lauf des Nachmittags kamen weitere Wolken hinzu, allerdings am Himmel. Der Wind ließ nach, und die schwüle Hitze kündigte ein Unwetter an. Die Karawane hatte es ohnehin schon schwer genug; die Aussicht, auch noch in ein Gewitter zu geraten, trieb die Leute stärker an, als es Mounteban mit all seinen zornigen Worten möglich gewesen wäre.
    Mir wurde immer langweiliger, und meine gute Stimmung löste sich auf. Estrada schwieg die meiste Zeit über, und Salzleck stapfte mit gesenktem Kopf dahin, war ebenso interessant und gesellig wie die Felsen am Straßenrand.
    Erneut bekam ich das Gefühl, mich in der falschen Gesellschaft zu befinden. Ich begann zu grübeln, und plötzlich schien es mir, als sei es vor allem Mounteban, mit dem mich viel verband. Vor noch nicht allzu langer Zeit waren wir Freunde gewesen, oder zumindest gute Bekannte und Gefährten bei dem einen oder anderen gemeinsamen Unterfangen. Für sein jüngstes Verhalten mir gegenüber gab es nur die Erklärung, dass er damit zeigen wollte, wie ehrlich und rechtschaffen er geworden war.
    Der Gedanke daran und die Schwüle, die immer mehr auf mir lastete, setzten mir so sehr zu, dass ich schließlich meinen Platz aufgab und vom Wagen sprang. Ich stieß fast gegen Salzleck, verfluchte ihn laut und bahnte mir einen Weg durch die Masse der schwitzenden und schwankenden Körper. Schließlich erreichte ich Mounteban und seine Kumpane. »Wie sieht’s aus, Mounteban?«
    »Verzieh dich, Damasco.«
    »So redet man nicht mit einem alten Freund.«
    »Daran werde ich denken, wenn ich einem begegne.«
    Ich widerstand der großen Versuchung, ihn vom Pferd zu ziehen und ihm die Faust ins Gesicht zu rammen. Er war von Leibwächtern umgeben, jeder davon fähig und auch bereit, mich auf ein Dutzend interessante Arten ins Jenseits zu befördern, ohne dass sie dabei ihre Phantasie übermäßig strapazieren mussten. Unter solchen Umständen war es vermutlich besser, wenn ich mich zurückhielt. »Was ist dein Problem mit mir, Mounteban? Na schön, wir sind nie richtige Freunde gewesen, aber ich wusste nicht, dass wir Feinde geworden sind.«
    »Du gehörst zu meiner Vergangenheit. Und dort solltest du besser bleiben.«
    »Oh, klar. Weil du jetzt der große Held bist. Ich habe gehört, dass du all deine Missetaten hinter dir gelassen hast, aber ich konnte es nicht ganz glauben.«
    »Und was denkst du jetzt?«
    »Ich denke: ›Einmal ein Dieb, immer ein Dieb.‹ Aber das ist nur meine Meinung.« Die Erschöpfung verdrängte einen Teil meiner Gereiztheit, und ich fügte nicht ganz ehrlich hinzu: »Hör mal, ich bin nicht zu dir gekommen, um mit dir zu streiten. Bald trennen sich unsere Wege, und ich hatte gehofft, dass wir bis dahin unsere Differenzen begraben könnten.«
    Mounteban spuckte auf den Boden. Seine Stimme klang nur etwas weniger aggressiv, als er erwiderte: »Du kannst wahrscheinlich nicht verstehen, dass ein Mann seine Vergangenheit hinter sich lassen möchte.«
    »Meine Vergangenheit enthält nichts, das es wert wäre, in einem Brief nach Hause erwähnt zu werden. Ich gebe zu, dass ich gern auf sie verzichten würde.«
    Vermutlich entsprach das durchaus der Wahrheit, aber dass ich diese Worte an Mounteban richtete, hatte eher mit einer plötzlichen Erkenntnis zu tun. Sie lautete: Ich war neugierig geworden. Was hatte ihn veranlasst, sich mit diesem Haufen von Verlierern einzulassen? In seiner Glanzzeit hätte er solche Leute getötet, um ihnen die Goldfüllungen aus dem Mund zu stehlen.
    »Aber du …«, fuhr ich fort. »Man braucht Mut, um aus dem Schatten der eigenen traurigen Berühmtheit zu treten.«
    Ich

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