Im Schatten der Giganten: Roman
die sie mir gezeigt hatte. Diese Parade ging zu Ende, als ich fertig war und Salzleck aus einem umgedrehten Wasserfass trank.
»Komm«, sagte ich. »Mir scheint, jetzt beginnt die Unterhaltung nach dem Essen.«
Der Tunnel war kurz, und an seinem Ende lockte bernsteinfarbenes Licht, das von Fackeln, die auf Dreibeinen steckten, und dem ersten Glimmen der Morgendämmerung stammte. Ein weiter offener Bereich erstreckte sich jenseits eines Überhangs, der aus der Flanke des Berges ragte. Reisende auf der von Norden nach Süden verlaufenden Bergstraße machten dort halt. Es war deutlich zu sehen, wie sich der Weg in beide Richtungen wand. Die Öffnung, durch die wir nach draußen traten, war offenbar verborgen gewesen und erst vor kurzer Zeit freigelegt worden.
Estrada stand am südlichen Rand des offenen Bereichs auf einer kleinen Bühne aus Kisten, den Rücken der dunstigen Leere des Castoval zugewandt. Etwa zweihundert Männer hatten vor ihr mehr oder weniger geordnet Aufstellung bezogen. Viele von ihnen trugen alte Rüstungsteile, die eigentlich gar nicht zusammenpassten; bei der Bewaffnung – von Schwertern über Bögen bis hin zu exotischeren Geräten – zeigten sich ähnliche Unterschiede. Einer hatte sich den Hammer eines Schmieds über die Schulter gelegt, und ein anderer stützte sich auf etwas, das eine Heugabel zu sein schien.
Ich schätzte, dass etwa zwei Drittel von ihnen Milizionäre oder Wächter irgendeiner Art waren. Die Übrigen wirkten so jung, dass sie eigentlich zu Hause bei ihren Müttern sein sollten, oder so alt, dass sie sich gar nicht mehr an ihre Mütter erinnerten. Vermutlich handelte es sich bei ihnen um Freischärler oder Freiwillige, die in den Rückzug der Truppen geraten oder in Muena Palaiya rekrutiert worden waren. Eine weitere Gruppe fiel mir auf, bestehend aus zwielichtigen Gestalten, die allem Anschein nach von militärischer Disziplin überhaupt keine Ahnung hatten – Kumpane von Mounteban, vermutete ich. Mounteban selbst stand vorn und beobachtete Estrada mit einem Gesichtsausdruck, den ich nicht erkennen konnte.
Salzleck und ich gesellten uns den Leuten hinzu, und daraufhin begann die Ansprache.
»Freunde«, sagte Estrada, »ich bin nicht hier, um euch zu trösten.«
Das klang für mich nach einem vielversprechenden Anfang.
»Ich bin nicht hier, um euch zu sagen, dass wir gewinnen. Ich will auch nicht behaupten, dass wir sicher sind. Vor zwei Tagen wurden wir besiegt, und vielleicht war es die entscheidende Schlacht um die Freiheit des Castoval. Moaradrid wird bald einen Weg hierher finden, zu dieser Zuflucht. Deshalb müssen wir diesen Ort verlassen.
Ich will nicht versuchen, euch Hoffnung zu machen. Es ist gefährlich zu hoffen, wenn wir bald alle tot sein könnten, und unsere Freunde und Angehörigen von einem Monstrum versklavt, das alles verachtet, was uns am Herzen liegt. Denn genau das wird passieren, wenn wir keine Möglichkeit finden, Moaradrid zu vertreiben. Er und seine Barbaren werden uns nicht einfach so verlassen. Sie werden nicht freiwillig gehen. Dies wird kein gutes Ende nehmen, es sei denn, wir kämpfen.«
Zustimmendes Gemurmel erklang. So richtig die Worte auch klangen, man konnte sie kaum ernst nehmen, wenn man sich umsah und feststellte, auf wen sich das »Wir« bezog.
Das schien Estrada klar zu sein. »Derzeit sind wir zu wenige. Selbst ein kleiner Teil von Moaradrids Streitmacht wäre uns weit überlegen. Deshalb fliehen wir ohne Schande. Wir teilen uns. Wir verstecken uns, wenn es nötig ist. Wenn es einen letzten Kampf geben wird – und es wird ihn geben –, wählen wir den richtigen Zeitpunkt dafür. Und auch den Boden, auf dem er stattfindet. Denn es ist unser Boden, unser Land.
Bis dahin habt ihr zwei Aufgaben. Ihr müsst am Leben bleiben und andere finden, die wie wir bereit sind, für ihre Heimat zu kämpfen. Wir besuchen jede Stadt und jedes Dorf im Castoval. Wir fragen alle, denen wir begegnen, ob sie frei sein und sich dafür einsetzen wollen. Unsere Zahl wird wachsen, denn Castovalaner sind nicht für das Joch geboren. Wir haben uns nie jemandem gebeugt, und damit fangen wir auch jetzt nicht an!«
Diesmal ertönte so etwas wie müder Jubel.
Fast hätte ich mit eingestimmt, aber im letzten Moment hielt ich mich zurück. Ich hatte nie dazu geneigt, mich irgendwelchen Gruppen anzuschließen oder für eine ach so ehrenvolle Sache einzutreten. Hier lag der Fall noch klarer als sonst, denn diese Leute hatten auch nicht den Hauch
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