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Im Schatten der Giganten: Roman

Im Schatten der Giganten: Roman

Titel: Im Schatten der Giganten: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Tallerman , Andreas Brandhorst
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einer Chance. Wie sollte selbst ein Heer aus wohlmeinenden Bauern dort einen Erfolg erzielen, wo die Soldaten aller Städte im Castoval versagt hatten? Ich hielt es für absurd.
    In einem Punkt hatten Estrada und Mounteban recht. Ich hatte den Krieg nur aus meiner eigenen kleinen Perspektive gesehen und kaum darüber nachgedacht, was geschehen würde, wenn Moaradrid triumphierte. Die Realität spritzte mir plötzlich wie Eiswasser ins Gesicht. Estrada hatte darauf hingewiesen, dass es keine Hoffnung gab, dies könnte ein gutes Ende nehmen, und genau darauf lief es hinaus.
    Ich stand tief in Gedanken versunken da, als sich die Schar der Zuhörer auflöste. Nur mit halbem Ohr hörte ich, wie Mounteban und Estrada ihre armselige Streitmacht in kleine Gruppen aufteilten, Anführer ernannten, Ziele und Treffpunkte bestimmten. Wie viele von ihnen würden einfach nach Hause gehen? War es die Unterdrückung durch einen fremden Kriegsherrn wirklich wert, dass man deshalb die Familie daheim hungern ließ und das eigene Leben für einen hoffnungslosen Kampf opferte?
    Ich verlor das Zeitgefühl. Irgendwann bot sich ein alter Mann in einem schmutzigen, blutbefleckten Poncho an, meine Wunden zu säubern und zu nähen. Ich blinzelte verwirrt und deutete auf Salzleck. »Du solltest dich um ihn kümmern.«
    »Du hast geblutet«, erwiderte er.
    »Er noch mehr.«
    Der Arzt wandte sich dem Riesen zu, und ich kehrte in meinen Dämmerzustand zurück.
    Es war Estrada, die mich schließlich daraus weckte. Plötzlich stand sie vor mir, und ich merkte, dass sie offenbar schon seit einer ganzen Weile sprach. Ich versuchte, mich auf ihre Worte zu konzentrieren, doch es gelang mir nicht.
    »Entschuldigung«, sagte ich. »Ich habe nicht zugehört.«
    Estrada unterbrach sich und musterte mich ein wenig besorgt. »Geht es dir schlecht?«
    »Keine Ahnung. Vielleicht.«
    »Du bist nicht schlimm verletzt.«
    Ich dachte darüber nach. »Nein, wahrscheinlich nicht.« Mit jemandem zu reden, half mir dabei, mich von der Niedergeschlagenheit zu befreien, die mich plötzlich erfasst hatte. Plötzlich fühlte ich nur noch kolossale Müdigkeit. »Was hast du gesagt?«
    »Ich bitte dich um deine Hilfe.«
    »Ah. Darauf hast du bereits hingewiesen.«
    Estrada nickte. »Und du hast geantwortet, dass du wahrscheinlich Nein sagen würdest.«
    »Hab ich. Willst du mir jetzt verraten, was du dir für uns ausgedacht hast?«
    »Nicht hier. Je weniger davon wissen, desto besser. Ich kann nur sagen, dass es in einer Woche vorbei sein wird, so oder so. Und ich glaube nicht, dass etwas davon ohne dich klappt.«
    »Ich nehme an, es wird sehr gefährlich sein. Bestimmt geht es um Leben und Tod, und wir müssen dauernd damit rechnen, verfolgt und mit Pfeilen beschossen zu werden, was in der Art, ja?«
    Estrada seufzte. »Wie ich schon sagte, ich kann dich nicht zwingen. Und selbst wenn ich es könnte … Ehrlich gesagt, ich bin zu müde, um es zu versuchen.«
    Ich musterte sie. Marina Estrada, früher Bürgermeisterin eines Provinznestes, jetzt der letzte überlebende General des Castoval. Eine erschöpfte Frau, die dringend ein Bad und saubere Kleidung brauchte, die sich verzweifelt bemühte, das Richtige zu tun, obgleich sie wusste, dass es sinnlos war. Ich erinnerte mich an die Nacht, die ich vor der Schlacht in Moaradrids Heereslager verbracht hatte, an die Furcht in allen Augen, an die Hoffnungslosigkeit von Männern, die wussten, dass mit dem Morgengrauen der Tod kam. Schließlich dachte ich daran, was ich Moaradrid erst vor wenigen Stunden hatte sagen hören, ohne dass mir richtig bewusst geworden war, was seine Worte bedeuteten: Er beabsichtigte, mit seinem Heer zur Hauptstadt zu ziehen und den König zu stürzen.
    Würde man ihn dort aufhalten? Und selbst wenn das gelang … Was würde nach all dem übrig bleiben?
    Ich rang mir ein Lächeln ab, obwohl mir ganz und gar nicht danach zumute war. »Warum nicht?«, sagte ich. »Ich habe nichts Besseres vor.«

10
    V ielleicht hätte meine neu entdeckte Bereitschaft den ganzen Morgen angedauert, wenn es jemandem gelungen wäre, mich wach zu halten. Schlafmangel stellt seltsame Dinge mit einem an, und dazu gehört unerklärliche Tapferkeit, wie ich bei mir feststellen musste.
    Estrada wusste natürlich nicht, dass mein Ja rein symptomatischer Natur war. In ihren Augen zeigte sich ein besonderer Glanz, als hätte sie einen persönlichen Sieg errungen, als sie zu mir sagte: »Wir können noch nicht los. Erst müssen wir so

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