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Im Schatten der Giganten: Roman

Im Schatten der Giganten: Roman

Titel: Im Schatten der Giganten: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Tallerman , Andreas Brandhorst
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musste er auf Händen und Knien kriechen. Als wir uns schließlich dem Fluss näherten, war er ziemlich weit zurückgefallen, und mit meiner Geduld stand es nicht mehr zum Besten.
    Was man mir offenbar ansah. Ich stand kurz davor, endgültig die Beherrschung zu verlieren, als Estrada flüsterte: »Erinnerst du dich, was du zuvor gesagt hast?«
    »›Zuvor?‹ Ich habe in meinem Leben vieles gesagt.«
    »Du hast gesagt, du würdest keine Intrigen spinnen, niemanden manipulieren oder vorgeben, jemanden zu schätzen, den du in Wirklichkeit verachtest.«
    »Ja, ich erinnere mich.«
    »Das stimmte nicht ganz, oder?«
    Ich überlegte. »Vielleicht nicht ganz. Vielleicht habe ich ein bisschen übertrieben, um meinen Standpunkt zu verdeutlichen.«
    Estrada blickte demonstrativ zu Salzleck, der gerade versuchte, sich hinter einem Busch zu verstecken, der ihm nur bis zur Brust reichte. »Du hast ihn manipuliert. Du hast ihn benutzt und dann allein zurückgelassen. Anschließend hast du ihn erneut belogen und behauptet, du würdest ihm dabei helfen, seine Familie zu schützen.«
    »Das habe ich nie gesagt.« Dann fiel es mir wieder ein. Ich hatte es gesagt, mit anderen Worten, in der Höhle nach unserer Rettung. Und ich hatte es ihm auch in Moaradrids Lager zu verstehen gegeben. »Das lässt sich wohl kaum damit vergleichen.«
    »Ach? Weil er ein Riese ist?«
    »Weil er ein Idiot ist.«
    Estrada nickte, und ihre Lippen formten eine Art halbes Lächeln. »Du hast nie richtig versucht, mit ihm zu reden, oder?«
    »Ich hatte keinen ganzen Tag frei, seit wir uns begegnet sind.«
    »Ich glaube, er kommt gut zurecht, wenn man bedenkt, dass er unsere Sprache erst seit zwei Wochen lernt, und zwar ganz allein.«
    Das erstaunte mich. Ich hatte Salzleck immer für einen großen Dummkopf gehalten, und jetzt fragte ich mich: Wie musste er sich fühlen, weit von zu Hause entfernt, in einer Welt, in der selbst das einfachste Wort unverständlich war?
    Salzleck wählte diesen Moment, um zu uns aufzuschließen und einen verwunderten Blick auf uns zu richten.
    »Ich will keinen neuen Streit, Damasco«, flüsterte Estrada. »Ich bitte dich nur um etwas mehr Geduld.« Laut sagte sie: »Es ist nicht mehr weit.«
    Sie hatte recht. Wir hatten praktisch den Fuß des Hügels erreicht, und um uns herum erstreckte sich ein Labyrinth aus Kiefern. Im Süden war Casta Canto gerade so zwischen den Baumstämmen zu erkennen. Wir wahrten einen sicheren Abstand zur Stadt und machten einen Bogen um sie. Als der Fluss in Sicht geriet – breit und braungrau, hier und dort weiß schäumend –, war sein Rauschen laut genug, unsere Stimmen zu übertönen. Wir kletterten zum schmalen Kiesstrand hinab und setzten den Weg dann in Richtung Stadt fort, durch die Büsche und Sträucher an der Uferböschung vor Entdeckung geschützt.
    Nicht nur wir näherten uns dem Ort, sondern auch die Fähre; an ihrer Kette entlang glitt sie dem Ufer entgegen. Was menschliche Fracht betraf, war sie fest leer. Nur zwei Männer standen vorn, vermutlich Händler; sie lehnten an der Reling und rauchten Pfeifen. Den übrigen Platz beanspruchten Pferde, die mit panischen Blicken aufs Wasser starrten und wieherten. Ein Steuermann war nicht nötig, denn bewegt wurde das Gefährt mithilfe von Flaschenzügen und der Kraft von sechs Ponys an der Uferstation. Ein durchaus beeindruckendes, wenn auch langsames Transportmittel, und damit ein Ärgernis für alle, die es eilig hatten. Diesen Eindruck machten die beiden Händler nicht, und glücklicherweise sahen sie auch nicht in unsere Richtung.
    Doch ihre Präsenz wies auf eine schwache Stelle in unserem Plan hin. Von Casta Canto und den Zelten vor der Stadt aus waren wir hier zwar nicht zu sehen, aber für Beobachter auf dem Fluss oder am gegenüberliegenden Ufer waren wir ebenso auffällig wie Bauchtänzerinnen bei einer Beerdigung. Estrada ließ uns anhalten, als die Fähre das letzte Stück zum Hafen kroch – wir waren nahe genug, die Stimmen der beiden Händler vom Wiehern der Pferde zu unterscheiden. Einer öffnete das Tor in der Reling, und der andere versuchte, die verängstigten Tiere von Bord zu treiben. Es sah nach einer unmittelbar bevorstehenden Katastrophe aus, denn die Pferde schienen vom nahen Fluss ebenso wenig zu halten wie von der Gesellschaft ihrer Artgenossen, aber die Händler verstanden ihr Handwerk und brachten die Tiere unter lautem Gewieher sicher an Land.
    »Hier ist unsere Chance«, sagte ich. »Selbst wenn wir gesehen

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