Im Schatten der Giganten: Roman
noch waren wir nicht in Casta Canto, und es schien kaum einen Sinn zu haben, sich schon jetzt den Kopf über eventuelle zukünftige Probleme zu zerbrechen. Estrada übernahm die Führung, deutete zum Kamm eines bestimmten Hügels und verkündete: »Das müsste die richtige Richtung sein.«
Nach dem Stand der Sonne zu urteilen hatte sie vermutlich recht. Ich erinnerte mich daran, wie wir in der letzten Nacht durch die Barriere aus Brombeer- und Weißdornbüschen gekrochen waren, wandte mich an den Riesen und fragte: »Kannst du einen Weg für uns schaffen, Salzleck?«
Er sah Estrada an und erwartete eine Bestätigung von ihr.
»Sei dabei nicht zu laut«, sagte sie und klang ein wenig schuldbewusst, weil sie mir zustimmte.
Salzleck streckte die Hand ins Dornendickicht, riss einen Strauch aus dem Boden und warf ihn mit einer fließenden Bewegung über die Schulter – mit lautem Rascheln landete er auf der anderen Seite der Lichtung. Ein zweiter Busch teilte kurz darauf das Schicksal des ersten.
Wir marschierten durch die Lücke, und dahinter erwartete uns ein steiler Anstieg. Bald stellte sich heraus, dass für Salzleck der Aufwand zu groß war, alle Hindernisse – jeden Dornenstrauch und umgestürzten Baumstamm – aus dem Weg zu räumen. Leichter war es, die Sammlung an Kratzern, blauen Flecken und Abschürfungen zu vergrößern, die wir uns am vergangenen Tag zugelegt hatten.
Ohne Mounteban wussten wir nicht, wo wir nach Pfaden Ausschau halten sollten, wenn es überhaupt welche gab. Wir kamen nur langsam und unter großen Mühen voran. Mit einer leichteren Route hätte es vielleicht tatsächlich nur zwei Stunden gedauert, aber der Weg durchs Dickicht kostete Zeit. Es wurde Mittag, bis wir schließlich den Hügel erklommen.
Als wir den Casto Mara sahen – ein fernes blaugraues Band tief unten –, war selbst Salzleck schweißgebadet. Dass wir keinen ausgetretenen Pfaden gefolgt waren, hatte wenigstens den Vorteil, dass wir Moaradrids Soldaten fernblieben.
Wir saßen geduckt hinter einigen Kiefern und bemühten uns, unsichtbar zu bleiben, obwohl Salzleck fünfmal breiter war als der Baum, der ihn verbergen sollte. Vor uns reichte ein bewaldeter Hang wie der, den wir gerade hinter uns gebracht hatten, bis zum Fluss hinab. An dieser Stelle war der Casto Mara breit und floss recht schnell. Hier und dort bildeten sich über verborgenen Felsen und Kiesbänken weiße Schaumkronen.
Casta Canto schmiegte sich in eine Flussbiegung: eine Ansammlung großer Holzhäuser, zwischen denen Türme aufragten, die ebenfalls aus Holz bestanden. Diese kleine Stadt lieferte den größten Teil des Holzes, das aus den Wäldern von Paen Acha stammte und für das Castoval bestimmt war. Einige Flachboote waren im einfachen Hafen vertäut, und keins von ihnen schien sich besonders gut für unsere Zwecke zu eignen. Die Fähre war näher, eine von einer Reling umgebene rechteckige Plattform, die von einer Kette zwischen den beiden Ufern gehalten wurde. Wie ein sterbender Fisch tanzte sie mitten in der Strömung.
Ich war oft in Casta Canto gewesen. Man konnte die Stadt kaum umgehen, denn sie stellte eine der Hauptverbindungen zwischen den beiden Hälften des Castoval dar. Meistens blieb es hier ziemlich ruhig, aber gelegentlich versammelten sich dort die Holzfäller, und dann ging es heiß her, während sie einige Tage und Nächte lang die Stadt leer tranken. Für die meisten Leute war es ein Ort der Durchreise; kaum jemand blieb länger in Casta Canto. Deshalb erschienen mir die Zelte am östlichen Stadtrand umso verdächtiger.
Ich sah Estrada an, die mit einem Nicken antwortete. Ihre Augen schienen schärfer zu sein als meine, denn sie deutete auf einen braunen Fleck bei der Anlegestelle. Ich konzentrierte mich und sah, dass sie recht hatte: Dort lag ein Einmast-Skiff – genau das, was wir brauchten.
»Ich glaube, wir können es erreichen. Wenn wir uns von Norden nähern, sind wir von den Zelten aus nicht zu sehen.«
Wir begannen mit dem Abstieg und wählten als Ziel nicht direkt Casta Canto, sondern eine Stelle etwa eine halbe Meile oberhalb der Stadt. Ein trockenes Flussbett erleichterte das Vorankommen und brachte uns ein ganzes Stück nach unten. Einfach war es trotzdem nicht. Manchmal kam es mir wie ein surreales Spiel vor, als wir zwischen Felsen, Gestrüpp und durch Mulden kletterten, um einen Weg zu finden, auf dem der große Salzleck möglichst gut verborgen blieb. Wo es für Estrada und mich genug Deckung gab,
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