Im Schatten der Giganten: Roman
Panchettos Stimme enthielt eine Schärfe, die ich nicht erwartet hätte. Vielleicht hätte es ihm – und auch seinem Vater – ganz gut gepasst, Moaradrid ohne viel Aufhebens loszuwerden. Wenn sich eine Gelegenheit ergab, Moaradrid zu verhaften … In den dunklen Tiefen der Palastverliese konnte ihm viel widerfahren, das ihn daran hinderte, seine Generäle zu erreichen, bevor Verstärkung eintraf.
Daran musste auch Moaradrid gedacht haben, noch bevor er seinen Fuß in die Stadt gesetzt hatte. Er spielte ein gefährliches Spiel, das durch sein Temperament noch riskanter wurde. Diesmal gelang es ihm, sich zu beherrschen, obwohl es ihn Mühe kostete. »Solche Vergleiche haben nur wenig Sinn, Hoheit. Allein Ihr habt zu entscheiden, wem Ihr Eure Gastfreundschaft schenkt.«
»Stimmt haargenau. Und dies gilt sicher auch für die hübsche Bürgermeisterin, nicht wahr?«
»Es gibt einen Unterschied zwischen Großzügigkeit und der Aufnahme eines Flüchtlings.«
»Wie kann er ein Flüchtling sein? Ihr bestimmt nicht, was Recht und Gesetz sind.« Diesmal platzten die Worte aus Estrada heraus, und sie hatte die Hände auf den Tisch gelegt, wie zum Aufspringen bereit.
»Ich wiederhole es noch einmal: Mir wurde ein Objekt gestohlen. Diese Ungerechtigkeit muss beseitigt werden.«
»Wie Easie vorhin schon sagte … Ihr habt es ebenfalls gestohlen. Ihr habt es sogar zuerst gestohlen.« Estrada stieß sich vom Tisch zurück, und ihr Oberkörper schwankte. »Es ist alles Eure Schuld.« Sie hob eine Hand und starrte sie an, wie verwundert darüber, woher sie plötzlich kam. »Ihr seid ein sehr böser Mann«, sagte sie, kippte nach hinten und rollte über den Boden.
Ich war mit einem Satz auf den Beinen.
»Marina? Was ist los mit dir?«
Ich kniete neben ihr und machte eine Schau daraus, ihre Atmung zu überprüfen.
»Sie ist nur ohnmächtig geworden«, sagte ich mit der Selbstsicherheit von jemandem, der sich sein ganzes Leben mit Medizin beschäftigt hatte. Ich warf Panchetto einen verärgerten Blick zu und dann auch Moaradrid. »Ihr solltet euch was schämen.«
Zustimmendes Murmeln erklang am Tisch. Mir war es völlig schnuppe, was diese verwöhnten Herrschaften dachten, aber es war wichtig, dass niemand von ihnen eingriff.
Bevor jemand auf den Gedanken kam – und das schien bei Alvantes der Fall zu sein –, wandte ich mich an Salzleck. »Wir sollten sie zu Bett bringen. Bitte hilf mir, sie zu tragen.«
Salzleck nickte und hob Estrada hoch. Es war seltsam ergreifend zu sehen, wie sanft er sie in den Armen hielt. Nur der Speichel, der ihr aus dem einen Mundwinkel rann, störte dieses rührende Bild ein wenig.
»Komm«, sagte ich und eilte zum Ausgang. Salzleck folgte mir pflichtbewusst. Panchetto stand im letzten Moment auf, und es gelang ihm nicht ganz, über seinen Versuch hinwegzutäuschen, die Initiative zurückzugewinnen. »Möchtest du nicht warten, bis mein Leibarzt kommt?«
»Das ist nicht nötig. Ich bin sicher, sie braucht nur ein wenig Ruhe.«
»Dann beauftrage ich einen meiner Männer, dich zu begleiten.« Panchetto winkte einen Wächter hinter mir her.
»Wir finden den Weg auch allein«, erwiderte ich knapp und verließ den Saal, bevor der Prinz noch etwas hinzufügen konnte.
Es stimmte, ich fand den Weg allein – weil ich ihn mir gut gemerkt hatte. Ohne große Probleme kehrten wir zu unserem Flur zurück und betraten Estradas Zimmer, wo ich Salzleck bedeutete, die Bürgermeisterin aufs Bett zu legen. Dabei murmelte sie etwas Unverständliches und rollte sich auf die Seite, kaum lag sie auf der Matratze. Einen Moment später begann sie zu schnarchen.
Salzleck stand neben dem Bett und sah auf die Schlafende hinab. Dann wandte er sich mir zu und flüsterte: »Marina krank?«
»Nein. Ich habe ihr was ins Glas gegeben, als ich es nachfüllen ließ. In ein oder zwei Stunden lässt die Wirkung nach.«
»Du was ?«, donnerte Salzleck.
»Bleib ruhig! Ich hab ihr was ins Glas gegeben, ja, aber nur ein bisschen. Wie sonst hätten wir die verrückte Party verlassen können?«
Das brachte ihn zum Schweigen. Ich sah das Durcheinander in seinem Gesicht, eine Mischung aus Verwirrung und Ärger, doch so interessant dies auch sein mochte, ich musste mich auf die anstehende Aufgabe konzentrieren. Zuerst nahm ich Estrada das Medaillon ab, das sie von Panchetto erhalten hatte, und hängte es mir selbst um den Hals. Schwieriger war es, die Schnur des Beutels aufzuknoten, aber schließlich gelang es mir, und der
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