Im Schatten der Leidenschaft
sich durch die Haut neben seinen lebhaft grünen Augen unter buschigen, braunen Augenbrauen. Sein Mund war voll und großzügig, wenn er ihn entspannt hielt, doch im Augenblick waren seine Lippen schmal, vermutlich ein Ausdruck seiner Gedanken. Das können keine besonders angenehmen Gedanken sein, überlegte Chloe mit Unbehagen.
Sie steckte die Hand in die Tasche, und die Briefe darin knisterten. »Möchten Sie den Brief von den Rechtsanwälten lesen?« fragte sie zögernd.
»Das sollte ich wohl besser tun«, sagte er seufzend. »Wo ist denn deine schüchterne Gouvernante geblieben?«
»Nach London gefahren.«
»Und hat dich hiergelassen.« Diese offensichtliche Tatsache stellte er mit einer gewissen Resignation fest. Irgendwie mußte er dieses Durcheinander entwirren, und das würde sicher deutlich mehr Energie erfordern, als er gewöhnlich aufzubringen bereit war.
Dem Brief der Rechtsanwälte war eine Kopie des Testaments beigefügt. Lady Elizabeth Gresham hatte ihre Tochter Chloe der alleinigen Vormundschaft von Sir Hugo Lattimer unterstellt. Er sollte bis zu ihrer Heirat ihr Vermögen verwalten, das auf etwa achtzigtausend Pfund geschätzt wurde.
Achtzigtausend Pfund. Er pfiff tonlos. Stephen hatte Elizabeth ihres Vermögens wegen geheiratet, das war kein Geheimnis gewesen. Vermutlich war es bei seinem Tod an sie zurückgefallen. Ihre vierjährige Ehe war nicht lang genug gewesen, als daß er das Geld hätte durchbringen können, und nach seinem Tod hatten die Greshams keinen Zugriff darauf gehabt. Das war ja sehr interessant - er hätte doch erwartet, daß es Jasper irgendwie gelungen wäre, den Besitz seiner jungen und verletzlichen Stiefmutter an sich zu bringen.
Er runzelte die Stirn, als ihm etwas einfiel, was das Mädchen vorher erwähnt hatte, nämlich daß sie nicht um ihre Mutter trauerte. »Was hast du damit gemeint, als du gesagt hast, du hättest deine Mutter nur ein paar Tage im Jahr gesehen?«
»Sie mochte Gesellschaft nicht besonders«, sagte sie. »Ich bin zu den Damen Trent gekommen, als ich sechs war. Zu Weihnachten habe ich Mutter dann immer für eine Woche besucht. Sie verließ ihr Zimmer nicht gern.« Sie biß sich auf die Unterlippe. »Ich glaube, sie war krank. Die Ärzte gaben ihr eine Medizin, die sie schläfrig machte. Sie erinnerte sich oft nicht mehr an bestimmte Dinge ... oder an Menschen ... ich weiß nicht, was sie hatte.«
Plötzlich wandte sie sich ab, als ihr der Anblick ihrer Mutter kurz vor ihrem Tod einfiel, in jenem Zimmer, den ein seltsamer, unangenehmer Geruch erfüllte, dessen Fenster nie geöffnet wurden und wo sogar an den heißesten Tagen des Jahres immer ein Feuer brannte. Eine Frau mit dünnem, weißem, wirrem Haar und blaßblauen Augen, die manchmal von einer furchterregenden Wildheit erfüllt waren. Sie schluckte etwas Medizin, dann verschwand die Wildheit, wurde durch Leere ersetzt. Sie hatte nie mit ihrer Tochter ein wirkliches Gespräch geführt. Ja, sie hat-ten flüchtig über das eine oder andere geredet, aber sonst nichts. Sie hatten einander nie kennengelernt.
Hugo betrachtete den Rücken des jungen Mädchens, sah, wie sich ihre Haltung versteifte, hörte den eigenartigen Unterton in ihrer Stimme, die bis jetzt immer fröhlich geklungen hatte, und sein Mitgefühl regte sich. »Warum hat sie dich als so kleines Kind fortgeschickt?« fragte er sanft.
»Ich weiß es nicht.« Chloe zuckte die Schultern und drehte sich wieder zu ihm um. »Ich nehme an, weil sie krank war. Für mich hatte das Internat etwas von einem Waisenhaus. Es gab auch noch andere Mädchen, deren Eltern im Ausland waren oder tot.« Sie zuckte noch einmal die Schultern.
Und was hatte Jasper während all der Zeit getan? Hatte er überhaupt nicht versucht, eine Rolle im Leben seiner kleinen Halbschwester zu spielen?
»Und dein Bruder?«
»Jasper? Kennen Sie ihn? Ja, natürlich. Sie kannten ja auch Mama.« Sie runzelte die Stirn. »Er kam nie in ihr Haus. Ich erinnere mich daran, daß ich ins Herrenhaus hinaufging, um mit Crispin zu spielen, aber als ich in die Schule kam, war damit auch Schluß. Ich habe ihn schon lange nicht mehr gesehen. Sie sind auch nicht bei Mutters Beerdigung gewesen.«
Jaspers Stiefsohn Crispin war vier Jahre älter als Chloe, erinnerte sich Hugo. Nach dem, was Jasper und sein Vater Elizabeth angetan hatten, konnte Hugo verstehen, warum sie Wert darauf legte, ihrer Tochter die Familie Gresham fernzuhalten. Dennoch fragte er sich, wie ihr das gelungen war. Ob
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