Im Schatten der Leidenschaft
wurde beim ersten Hahnenschrei wach und fühlte sich ganz nach Abenteuer. Das kam natürlich daher, daß ihre heutige Unternehmung verboten war. Unter anderen Umständen hätte sie die Aussicht auf einen Ritt mit Crispin wenig fasziniert, denn er war kein besonders interessanter Gesellschafter. Aber sie war es wirklich leid, auf Befehl eines Mannes, der nur selten klar im Kopf war, in diesem staubigen, zerfallenen Herrenhaus eingesperrt zu sein. Nach zehn Jahren Gefängnis im Internat der Damen Trent war das nicht nur verletzend, sondern beleidigend. Außerdem schien die Sonne, und die Welt wartete auf sie.
Natürlich hatte es auch nur wenig Sinn, ein neues Reitkostüm plus Hut mit silbriger Feder zu besitzen, wenn man die Sachen nie tragen durfte.
Sie rannte in die Küche hinunter und ließ Dante in den Küchengarten laufen. Sie nahm einen Apfel aus dem Korb und folgte Dante in den Obstgarten. Dort setzte sie sich auf die niedrige Gartenmauer und schaute hinaus auf das Tal von Shipton, aus dem der Frühnebel aufstieg und wieder einen heißen Tag ankündigte.
Sie hatte beschlossen, daß sie verschwinden würde, indem sie über diese Mauer kletterte, daran entlanglief und erst auf halbem Weg die Auffahrt hinunter wieder herauskam. Auf diese Art war es viel weniger wahrscheinlich, daß sie entdeckt wurde.
Sie aß ihren Apfel, während Dante im taufeuchten Gras Hasen aufscheuchte, dann kehrte sie in die Küche zurück. Sie konnte nicht einfach davongehen, ohne irgendeine Erklärung zu hinterlassen. Sie würden sowieso ziemlich böse sein, auch wenn sie sich nicht fürchten und fragen mußten, was wohl aus ihr geworden war.
In der Küchenschublade lag Papier und ein Bleistift. Sie nahm sie mit in ihr Zimmer, um eine passende Nachricht zu schreiben.
Um sieben Uhr hörte Chloe Samuels schwere Schritte auf der
Treppe. Er würde als erstes den Kessel aufs Feuer stellen und dann ins Hühnerhaus gehen, um die Eier einzusammeln. Dann würde er für sich und Billy Tee und Hafergrütze machen. Wenn sie gefrühstückt hatten, würden sie in den Stall gehen und Pferde und Hunde versorgen.
Sie zog sich schnell an und las ihre Nachricht noch einmal durch. Poetisch war sie nicht, aber es ging klar daraus hervor, daß sie am Nachmittag zurückkommen würde. Dann fiel ihr noch etwas ein, und sie fügte hinzu, daß Dante eingesperrt werden müßte, so lange sie fort war, denn ihr war klar, daß Crispins Pläne durchaus scheitern konnten, wenn der Hund auch mitkam. Samuel konnte ihn ja loslassen, wenn sie weg war.
Danach verließ sie ihr Zimmer, ging auf Zehenspitzen zum Ende des Flurs und schaute zu dem verschlafenen Plato in die Brennerei, der angesichts des Lichts blinzelte, aber einen friedlichen Eindruck machte und bisher die Schiene nicht verändert hatte.
Die Küche war leer, wie sie erwartet hatte, und die Hintertür stand auf. Sie lehnte ihre Nachricht an die Kaffeekanne auf dem Tisch und huschte hinaus. Durch den Küchengarten, den Obstgarten, über die Mauer, und schon war sie frei.
Crispin wartete auf der Straße vor dem Tor. Er hielt Maid Marion am Zügel.
»Guten Morgen«, rief Chloe, als sie durchs Tor gelaufen kam. »Ist es nicht ein wunderschöner Morgen?«
Crispin stieg vom Pferd. »Ja. Weiß auch niemand, daß du hier
bist?«
»Kein Mensch«, sagte sie fröhlich und rieb Maid Marion die Nase. »Aber ich habe ihnen eine Nachricht hinterlassen, damit sie sich keine Sorgen machen.«
Crispin wurde blaß. »Eine Nachricht?«
»Ja, natürlich ... Kannst du mir beim Aufsitzen helfen?«
Crispin nahm ihren gestiefelten Fuß und hob sie in den Damensattel, in dem sie anmutig landete. Sie legte ihr rechtes Knie über den Knauf, ordnete ihre Röcke und warf ihrem Begleiter ein strahlendes Lächeln zu. »Wohin reiten wir?«
»Das ist eine Überraschung.« Crispin stieg ebenfalls aufs Pferd. »Was steht in deiner Nachricht?«
»Oh, nur, daß ich mit dir einen Ritt mache und wir am Nachmittag wieder zurück sein werden.« Sie sah ihn fragend an. »Machst du dir deswegen Sorgen?«
»Nein, warum denn?« Aber sein Mund war schmal, und seine Augen wirkten hart. »Wann werden sie die Nachricht denn finden?«
»Oh, ich denke, in einer halben Stunde«, sagte Chloe. »Warum?«
Crispin ließ sein Pferd mit einem Schulterzucken antraben und dann angaloppieren. Chloe folgte ihm überrascht.
Erst eine Viertelstunde später wurde Crispin wieder langsamer, und bis dahin hatte Chloe schon soviel Vergnügen an ihrem Ritt, daß
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