Im Schatten der Leidenschaft
sie nicht mehr über seine plötzliche Eile nachdachte. Crispin wollte immer noch nicht sagen, wohin sie ritten, also genoß sie einfach nur entspannt den schönen Morgen und das kräftige Pferd zusammen mit dem angenehmen Gefühl, einen ganzen freien Tag vor sich zu haben.
Samuel sah die Nachricht, sobald er aus dem Stall zurück in die Küche kam. Er faltete das Papier auseinander und sah verwirrt darauf, denn er konnte nur sehr wenig lesen und überhaupt nicht schreiben, aber er erkannte die Unterschrift, was ihn mit einem unangenehmen Vorgefühl erfüllte. Nach weiterer Überlegung war ihm klar, daß sie wohl fortgegangen sein mußte.
Bei manchen Gelegenheiten konnte Samuel eine Reihe von Flüchen hervorbringen, die die gesamte Marine Seiner Majestät beeindruckt hätten. Dies war eine jener Gelegenheiten. Es war klar, daß ihm keine andere Wahl blieb, als Sir Hugo zu wecken, und das aus dem ersten vernünftigen Schlaf, den er seit undenklichen Zeiten schlief.
Frauen waren so eine Sache ... nichts als Schwierigkeiten. Er hastete die Treppe hinauf und klopfte an Sir Hugos Tür. Er hörte nicht gleich eine Antwort, und so drückte er die Klinke herunter.
»Tut mir leid, Sir Hugo -«
»Was ist los, Samuel?« Hugo war sofort hellwach, wenn auch einen Augenblick lang desorientiert, denn er glaubte, er wäre wieder an Bord seines Schiffes und Samuel wecke ihn während der Nachtwache wegen irgend einer wichtigen Angelegenheit.
»Es ist wegen der Miss«, sagte Samuel und trat ans Bett. »Sie hat dies auf dem Küchentisch hinterlassen.« Er hielt Hugo das Papier hin.
Hugo griff hastig danach, las, was darin stand, und schloß kurz die Augen. »Warum zum Teufel sollte sie mit Crispin irgendwohin gehen? Sie hat gesagt, daß sie ihn nicht ausstehen kann.«
»Diesen Verwandten?« fragte Samuel mit einem unbehaglichen Stirnrunzeln. »Den, der die ganzen letzten Tage hier war?«
»Was?«
»Nun, sie wirkte etwas mitgenommen, und er schien ihr Freude zu machen. Sie haben den Hof nie verlassen, das schwöre ich. Und ich habe sie die ganze Zeit beobachtet. Ich schätze, daß er ihr auch die Eule mitgebracht hat.« Eine dunkle Röte lag in Flecken auf Samuels wettergegerbten Wangen, als er seinen Arbeitgeber besorgt ansah. »Habe ich 'was falsch gemacht?«
»Du kannst nichts dafür, Samuel. Es ist meine Schuld.« Hugo verzog voll Abscheu den Mund. »Ich dachte, die Sache hätte Zeit, bis ich mich wieder im Griff habe. Jasper hat gesagt, er wäre einem Trunkenbold bestimmt überlegen ... und bei Gott, er wußte, wovon er sprach.« Er legte den Zettel weg und stand auf. »Wie lang kann sie schon fort sein?«
»Vielleicht ’ne halbe Stunde.«
»Es hätte schlimmer kommen können.« Er zog sich das Hemd über den Kopf und die Hosen an. »Ich bin ganz sicher, daß ich ihr gesagt habe, sie soll den Hof nicht ohne Erlaubnis verlassen ... oder habe ich mir das auch wieder nur im Suff eingebildet?«
»Nein, Sir Hugo, ich war auch dabei«, sagte Samuel ruhig und gab ihm seine Stiefel.
»Aha. In diesem Falle sollte sich Miss Gresham auf etwas gefaßt machen, wenn ich sie zu fassen bekomme.« Er saß auf der Bettkante und zog sich die Stiefel an. »Sag Billy, er soll die Pferde satteln. Es gibt nur eine Straße und auf der nur zwei Richtungen. Ich folge der Straße nach Manchester Richtung Shipton, und du reitest Richtung Edgecombe. Irgend jemand an der Straße muß sie gesehen haben.«
Er stand auf und schnallte seinen Gürtel um. »Ich brauche mein Messer, Samuel, und die Pistole.«
Samuel gab sie ihm und eilte hinunter, um Billy seine Anweisungen zu erteilen.
Hugo prüfte mit einem Finger die Schärfe seines Messers und steckte es dann in die Scheide an seinem Gürtel. Er lud die Pistole und ließ sie in die tiefe Tasche seines Rockes fallen.
Er hatte Chloe nichts von seinen Zweifeln gegenüber den Greshams gesagt, also konnte er ihr nicht wirklich übelnehmen, daß sie mit Crispin geritten war. Sie kannte ihn aus ihrer Kinderzeit, und es gab keinen Grund, warum sie ihn verdächtigen sollte. Andererseits hatte er ihr befohlen, beim Haus zu bleiben, und so war sie direkt in die Höhle des Löwen geraten und machte ihm wieder das Leben schwer ... ganz zu schweigen davon, daß er deswegen aus seinem ersten Schlaf seit ewigen Zeiten geweckt worden war. Außerdem mußte er unrasiert und ohne Frühstück das Haus verlassen. Wenn er noch genug Energie gehabt hätte, sich vor dem Schlafengehen zu rasieren, würde er jetzt nicht
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