Im Schatten der Leidenschaft
wir das früh morgens, denn dann ist Samuel beschäftigt und hilft Billy im Stall.«
»Morgen?«
»Wenn du möchtest.« Sie war zu sehr mit der verletzten Eule beschäftigt, um ihn anzusehen. »Ungefähr acht Uhr.«
»Ich erwarte dich am unteren Ende der Auffahrt mit Maid Marion. Aber wie ich sehe, hast du im Augenblick Wichtigeres zu tun, als dich mit mir zu unterhalten, also werde ich dich deinem Patienten überlassen.« Er stieg auf sein Pferd. »Bis morgen, Chloe.«
»Ja«, sagte sie abwesend. »Wiedersehen, Crispin.« Sie eilte mit der Eule ins Haus, ohne abzuwarten, bis er davongeritten war.
Crispin machte sich zufrieden auf den Weg. Morgen um diese Zeit würde Chloe Gresham sicher in den Händen ihres Halbbruders sein.
Chloe trug den Vogel in die Küche und stellte die Schachtel auf den Tisch.
»Was haben Sie denn da?« fragte Samuel, der gerade mit einem Korb voller Äpfel durch die Hintertür hereinkam.
»Schau doch selbst«, sagte Chloe abwesend. »Ich werde etwas Brot mit Milch als Futter einweichen. Im Augenblick wird das reichen, da ich wohl kaum in der Lage sein werde, ihm Mäuse vorzukauen.«
»Um Himmels willen«, murmelte Samuel und betrachtete den Vogel. »Was ist denn los damit?«
»Der Flügel ist gebrochen. Ich brauche zwei ganz leichte, dünne Holzsplitter als Schienen. Haben wir irgendwo Nähgarn ?«
»Ich schätze schon.« Er sah ihr neugierig zu, als sie sich an den Tisch setzte, den Vogel in eine Hand nahm und ihm geduldig immer wieder den Schnabel öffnete, um das Futter hineinzustecken. Beim dritten Stück öffnete die Babyeule den Schnabel schon von allein.
»Na also, so ist’s doch schon besser, stimmt’s?« säuselte Chloe und legte den Vogel in die Schachtel zurück. »Jetzt kommt die Schiene dran.«
Sie arbeitete gerade konzentriert mit zwei Holzsplittern aus dem Feuerkorb, die sie mit Nähgarn umwickelt hatte, als Hugo in die Küche kam. Er lehnte sich an den Türrahmen und sagte ruhig: »Guten Abend.«
Chloe sah nur den gebrochenen Flügel unter ihren Händen und antwortete nicht. Samuel seufzte jedoch in hörbarer Erleichterung und strahlte, während er die zerzauste Gestalt im Türrahmen musterte. Hugos Gesicht zeigte deutlich die Spuren von vier schlaflosen Tagen und Nächten. Seine Augen waren rotgerändert, die papierdünne Haut darunter geschwollen, und der Bart der letzten Woche stand in Stoppeln an seinem Kinn. Aber er hatte eine friedliche Ausstrahlung, so als wäre er nach einem Schiffbruch an einem ruhigen Strand angespült worden.
»Kommen Sie nur herein.« Samuel rieb sich erfreut die Hände. »Was kann ich für Sie tun?«
»Erst Kaffee machen, dann etwas zu essen«, sagte Hugo. Er betrachtete Chloes angespannten Rücken und sagte: »Guten Abend, Mädel.« Wieder antwortete sie nicht. Er hob fragend die Augenbrauen mit einem Blick auf Samuel, der den Kopf schüttelte und den Kessel ans Feuer stellte.
»Was tust du denn da, Chloe?« versuchte Hugo es noch einmal.
Chloe kümmerte sich nicht um ihn und konzentrierte sich ganz auf die äußerst schwierige Aktion, den Splitter an den Vogelflügel zu binden.
Hugo kam zum Tisch herüber. »Hast du mich nicht gehört, Mädel?«
»Ich dachte, daß es ganz offensichtlich ist, was ich tue«, murmelte sie. »Ich schiene einen gebrochenen Flügel.«
Hugo sah ihr zu und schürzte bewundernd die Lippen angesichts ihrer präzisen Bewegungen. Er beschloß, die Sache mit der Unhöflichkeit nicht weiter zu beachten, und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch.
Der erste Schluck Kaffee war wie ein Wunder. Er hatte seit dem Beginn seiner Einsiedlerzeit in der Bibliothek nur Wasser zu sich genommen. Alles andere hatte ihm Übelkeit bereitet. Jetzt schien die heiße Flüssigkeit neues Leben in seinen Körper zu bringen, der sich innen und außen anfühlte, als hätte man ihn durch die Mangel gedreht. Er war erschöpft und ausgehungert. Aber er fühlte sich gereinigt, seinen Körper frei von Gift, seinen Geist klar, und seine Seele irgendwie geheilt, so als hätte er in jenen langen Stunden der Qual die Vergangenheit schließlich ausgetrieben.
Jetzt mußte er das Problem mit seinem Mündel angehen, das bei jeder Bewegung Zorn und Abneigung fast spürbar ausstrahlte. Er wußte, daß er sie verletzt und verwirrt hatte. Von jetzt an würde ihre Beziehung auf der freundlichen Grundlage von Vormund und Mündel stattfinden, und Chloe würde bald vergessen, was zwischen ihnen in seinem trunkenen Wahn geschehen war. Er würde
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