Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
schrecklich aus, voller Schmiere, Blut und Grasflecken. » Sie blutet – schaut!«, sagt die Frau.
Die Mädchen zucken die Achseln und betatschen die Schrammen, als könnten sie sie einfach wegwischen, wenn sie es nur kräftig genug tun. Chloe kreischt auf und haut mit geballten Fäusten zurück.
Mrs Nosy-Parker sieht auf ihre Armbanduhr. » Ich muss in fünf Minuten drüben in Great Barrow sein«, bemerkt sie.
» Ist schon gut«, sagt Bel. » Wir bringen sie heim.«
» Und machen sie sauber«, ergänzt Jade. » Sie hat einfach bloß einen Wutanfall.«
» Nun, das überrascht mich nicht«, meint Mrs Nosy-Parker. Sieht noch einmal auf die Uhr und beschließt, es bei einer Standpauke zu belassen. » So könnt ihr nicht mit kleineren Kindern umgehen«, schimpft sie. » Mir ist egal, wer dich so lieblos aufgezogen hat, Jade Walker. Aber selbst du solltest das wissen.«
» Ja, Mrs Nosy-Parker«, sagt Jade.
» Und deine Mutter werde ich heute Abend anrufen und ihr von deinem Verhalten erzählen«, sagt die Frau zu Bel. » Es ist beschämend. Von einer Walker hätte ich vielleicht nichts anderes erwartet, aber du solltest es besser wissen.«
» Ja, Mrs Nosy-Parker«, sagt Bel. Die Frau blickt sie kurz misstrauisch an, sie hat eine salbungsvolle und ehrerbietige Miene aufgesetzt. Legt den Kopf ein wenig zur Seite wie Shirley Temple.
» Also gut«, sagt sie und öffnet die Autotür. » Ich persönlich meine ja, dass ihr zwei eine ordentliche Tracht Prügel vertragen könntet, aber was soll’s.«
Sie schlägt die Tür zu, lässt den Motor an und kurbelt das Fenster herunter. » Und gebt etwas Jod auf die Schrammen da«, befiehlt sie. » Die entzünden sich sonst. Im Ernst, du solltest auf deine Schwester aufpassen, statt sie wie eine Puppe oder dergleichen zu behandeln.«
Sie legt den Gang ein und fährt davon. Die drei Mädchen – zwei stehend, eines mit finsterem Blick auf dem Seitenstreifen zwischen ihnen kauernd – sehen ihr schweigend nach.
» Määh-määh-määh, Mrs Nosy-Parker«, meint Jade und versetzt Chloe hinterrücks einen Kick gegen den Oberschenkel. » Das ist dafür, dass du uns in Schwierigkeiten gebracht hast. Los jetzt. Steh auf! Und noch einen Mucks, dann lassen wir dich hier.«
KAPITEL 36
Jeder, der noch Zeitung liest, hat dabei ein bestimmtes Ritual– Ort, Zeitpunkt und Körperhaltung sind allein dieser Beschäftigung vorbehalten. Ob in den Mittagsstunden, auf dem Weg zur Arbeit oder wenn das Baby ein Nickerchen macht und man sich ein bisschen Zeit stehlen kann: Es ist ein viel persönlicheres Ritual, als das Fernsehen es je bieten kann. An normalen Tagen überfliegen Kirsty, Stan und ihre Altersgenossen die Zeitungen im Internet, während das Kaffee- oder Teewasser kocht und im Hintergrund die 24-Stunden-Nachrichtensender laufen. Während sie darauf warten, dass die Themenkonferenz endlich zu Ende ist und die Aufträge reinkommen, durchforsten sie, was die Nachrichtenagenturen Reuters und AP an Neuigkeiten ins Netz gestellt haben, um der Konkurrenz möglichst voraus zu sein. Dann machen sie es sich, jedenfalls meistens, mit ihrer bevorzugten Lektüre gemütlich, auch wenn sie nach außen hin natürlich alle so tun, es handele sich dabei um die Zeitung, die sie hauptsächlich beschäftigt.
Martin Bagshawe liest seine Zeitung gewöhnlich in der Bibliothek. Heute jedoch kauft er sich eine Flasche Kakao, ein Schottisches Ei– eine äußerst nahrhafte Angelegenheit aus einem hart gekochten, in paniertem Wurstbrät frittierten Ei–, Käse-Zwiebel-Kartoffelchips und eine Ausgabe der Sun. Die liest er, während er darauf wartet, dass Kirsty Lindsay sich blicken lässt, damit er endlich weiß, welches der fünf Häuser, die er beobachtet, ihres ist. Mit seiner Kreditkarte für Notfälle hat er sich einen weißen Transporter geliehen und einen marineblauen Overall bei Millets gekauft, denn nach seiner Erfahrung wird kein Mensch misstrauisch bei einem, der in Arbeitskleidung in einem Lkw döst. Er hat keinen Schimmer, wie lange er warten muss, und hofft bloß, dass das Sudoku so lange reicht.
Deborah Prentiss hat bei Asda die Frühschicht und liest ihre Zeitung immer um zwei Uhr, wenn sie heimkommt, bevor sie schnell die Hausarbeit erledigt und dann die Kinder von der Schule abholt. Jeden Tag folgt sie demselben Ritual: Sie kommt herein, setzt den Kessel auf und geht nach oben, um sich ihrer verhassten Polyesterdienstkleidung zu entledigen. Deb legt Wert auf ihr Äußeres, schon immer, seit
Weitere Kostenlose Bücher