Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
strahlendes Lächeln auf und sagt: » Danke, sehr gut. Und dir?« Das hat sie zu jedem gesagt, der ihr diese Frage seit dem Tag des Mordes gestellt hat. Lucinda ist ihr erster Besucher seit dem Prozess– oder jedenfalls der erste, den sie persönlich kennt.
» Nun, freut mich zu hören«, sagt Lucinda. » Freut mich, dass es dir sehr gut geht.«
Bels Augen füllen sich mit Tränen.
Lucinda verzieht das Gesicht. » Ach, hör doch auf, so ein Baby zu sein«, sagt sie.
Bel lässt den Kopf hängen und versucht, sich wieder zu fangen. Gefühlsäußerungen hat ihre Mutter noch nie gemocht, auf jeden Fall nicht von Bel.
» Wie geht es den anderen?«, fragt sie schließlich.
» Was erwartest du denn, wie es ihnen geht?«, erwidert Lucinda.
» Ich…«
» Michael hätte sich beinahe von mir scheiden lassen«, sagt Lucinda. » Gott sei Dank hat er es sich anders überlegt. Er versteht nämlich, dass ich nicht dafür verantwortlich gemacht werden kann, was ihr getan habt.«
» Es tut mir leid«, sagt Bel demütig. Sieht auf die verschlissenen Bündchen ihres Pullis und fragt sich, wie lange dieser Besuch wohl noch dauert.
» Wie auch immer«, sagt Lucinda nach einer kurzen Pause. » Ich bin nur gekommen, um dir zu sagen, dass wir wegziehen. Nach Singapur.«
Bel erwidert nichts. Ihr ist bereits klar, dass da draußen alles schon gelaufen ist, dass das Haus verriegelt und die Familie geflüchtet ist. Man hat sich nicht viel Mühe gegeben, die Berichterstattung der Presse vor ihr zu verbergen. Sie hat die Bretter vor den Fenstern gesehen, das Eisengitter an der Tür, wie bei den ausgebrannten Überresten der Broadwater Farm. Die Walkers sind umgesiedelt worden, ihre Namen wurden geändert, die kleineren Kinder wurden in Pflege gegeben, und die älteren haben sich in alle Winde verstreut. Ihre eigene Familie dagegen– es gibt weniger staatliche Unterstützung, wenn man über Bankkonten verfügt. Und weniger Einmischung.
» Die Bank hat ihn versetzt«, fährt Lucinda fort. » Nett von ihr, wirklich. Andererseits ist er wirklich gut in dem, was er macht. Und beliebt, obwohl ich nicht glaube, dass du das zu würdigen weißt. Auf alle Fälle, das war’s. Ich nehme nicht an, dass wir wiederkommen. So viel zu uns, die wir verdammt sind, ein Leben als internationale Zigeuner zu führen, und das bloß deinetwegen. Ich dachte, ich teile es dir mit. Sage dir Bescheid.«
» Okay«, sagt Bel passiv. In gewisser Hinsicht ist sie erleichtert, dass sie jetzt weiß, was die Zukunft für sie bereithält. Man wird nicht für sie kämpfen. Sie ist auf sich allein gestellt.
» Gut, na dann.« Lucinda beginnt, in ihrer Handtasche zu wühlen. Kurz kommt Bel der kühne Gedanke, sie hätte vielleicht ein Geschenk mitgebracht. Ein Andenken für die vor ihr liegenden Jahre, irgendein kleiner Beweis, dass sie tatsächlich einmal eine Familie hatte. Die Haare ihrer Mutter, sonst immer tadellos, sind widerspenstig, sie hat sie zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, unter dem gesträhnten Blond zeigen sich dunkle Ansätze. Seit Bel sie zum letzten Mal vor sechs Monaten sah, hat sie Falten um den Mund bekommen. Das war ich, denkt Bel. Alles meine Schuld.
Lucinda findet, wonach sie gesucht hat, und zieht es heraus: ein Stofftaschentuch mit ihren aufgestickten Initialen in einer Ecke. Verhalten schnäuzt sie sich hinein. Zieht die überdimensionale Sonnenbrille aus ihren Haaren herunter und bedeckt damit die Augen.
» Wenigstens wird deine Schwester eine Chance auf ein normales Leben erhalten«, erklärt Lucinda » Ohne Menschen, die Bescheid wissen. Und sie anstarren. Und neugierig sind.«
» Ja«, erwidert Bel.
» Wie konntest du das nur tun, Annabel?«, fragt sie.
» Ich weiß nicht. Es sollte nicht so sein. Wir haben es nicht gewollt– es ist einfach passiert …«
» Um Himmels willen!« Lucinda tut das Verbrechen ab, als wäre es irgendein belangloser Klatsch, irgendein Akt von Vandalismus, eine Schulhofrauferei. » Nicht das! Himmel noch mal! Ich meine diese Lügen. All diese Lügen über Michael.«
» Das waren keine Lügen«, entgegnet sie trotzig. » Ich habe es dir erzählt. Ich habe es dir gesagt, aber du wolltest nicht zuhören. Das war nicht gelogen.«
Lucinda will es nicht hören. Hat es nie hören wollen: das mit dem Keller oder mit den Ställen oder die Besuche mitten in der Nacht, wenn ihre Mutter in tiefen Valiumträumen lag.
» Ich habe versucht, es dir zu sagen, Mama«, erklärt sie, » aber du wolltest nicht
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