Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
diese seitlich zertrümmert ist wie Sperrholz. Sie muss ihn mit voller Wucht getroffen haben.
» Was machen wir jetzt?«, fragt sie wieder.
» Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht.« Amber versucht nachzudenken und all die Erinnerungen daran auszulöschen, wie ihr Verstand damals, vor all den Jahren, gearbeitet hat. Hier gibt es keinen Wald, in dem wir ihn vergraben könnten, so viel steht schon mal fest.
» Wo ist dein Handy?«, fragt Kirsty.
Bestürzt schaut sie auf. » Wieso, Jade?«
» Kirsty«, begehrt diese auf. » Ich bin Kirsty. Wir müssen einen Krankenwagen rufen. Er…«
» Und was dann?«
» Ich kann nicht einfach… Wir können nicht einfach…«
Sie ringt die Hände wie ein kleines Kind, das Haar klebt ihr auf der Stirn und ihre Mittelklasseuniform, Jeans und Jersey, am Körper.
Die Entscheidung rastet in Ambers Hirn ein wie die Gänge in einem Automotor.
» Du denkst nicht logisch, Kirsty«, sagt sie zu ihr. Legt alle Autorität in ihre Stimme, die sie aufbringen kann. » Du musst hier weg.«
Kirsty schwankt, als hätte man sie geohrfeigt. » Was?«
» Los. Geh.«
Kirsty ist wie betäubt. Sieht Amber mit leerem Blick an.
» Ich kann nicht, nein. Sieh doch, was ich getan habe. Sieh hin! Schau ihn dir an!«
Amber ist überrascht, wie ruhig sie ist, jetzt, nachdem ihre Entscheidung gefallen ist. » Es ist noch nicht zu spät«, erklärt sie. » Wenn du jetzt gehst, wird es nie jemand erfahren. Wenn ich sage, dass ich es war, wird sich niemand auch nur die Mühe machen, nachzufragen.«
Kirsty steht der Mund offen. Sie blickt von Amber auf Martin Bagshawe. Dessen Schnarchlaute werden immer nasser und dickflüssiger und langsamer, während das Blut sich auf der verwitterten Lackfarbe ausbreitet. Durch die Wolken dringen die ersten missmutigen Schimmer der Dämmerung. Bald wird die Frühschicht aufstehen und sich mit Schrubbern, Eimern und Bleichmittelfässern auf den Weg in die Stadt machen.
» Ich –«
» Nicht. Geh einfach«, sagt Amber.
Sie stehen sich im silbrigen Licht gegenüber. Zu ihren Füßen der Gezeitenwechsel, über ihren Köpfen das Kreischen der Möwen auf der Suche nach den Überresten der Nacht. Geh, denkt Amber. Geh einfach. Wenn du noch länger wartest, bin ich vielleicht nicht mehr fähig, das hier durchzuziehen.
Kirsty sieht aus, als finge sie gleich an zu weinen. Atmet dreimal tief durch und schlingt die Arme um sich, als hätte sie Schmerzen im Brustkorb. Und dann macht sie auf dem Absatz kehrt und rennt den Bohlenweg hinunter.
16 UHR 30
Es knirscht, als Chloes Kopf auf dem ausgehärteten Morast auftrifft. Jade und Bel machen sich schon auf das gleich einsetzende Gebrüll gefasst. Stattdessen bohrt sich ihnen Stille ins Ohr. Die Stille eines heißen Tages auf dem Land, mit Lerchengezwitscher, dem sanften Rauschen der Baumwipfel, dem halbherzigen Rinnen des Bachs durch die Wiesen, und weit in der Ferne das Gelächter der Nachbarn, die sich gegenseitig im gemächlich dahinfließenden Evenlode untertauchen.
Beide haben den gleichen Gedanken: Oh Gott, jetzt sitze ich in der Klemme.
Chloe liegt reglos da wie eine weggeworfene Puppe, den Kopf zurückgeworfen, die rechte Hand in einem unmöglichen Winkel neben ihrem Schulterblatt. Sie blutet aus der Nase und aus dem Riss in ihrem Schädel: ein träger, brauner Schleim, durchsetzt von klumpigem Rotz und einer zähflüssigen, durchsichtigen Substanz. Ihr Mund steht offen, genau wie ihre riesigen blauen Augen.
» Chloe?« Bel ist die Erste, die etwas sagt. Ihre Stimme flattert, als sei sie außer Atem.
Chloe gibt keine Antwort. Liegt einfach nur da und sickert vor sich hin.
» Sie ist bewusstlos«, verkündet Jade, obwohl sie diesen Zustand erst einmal als eine Folgeerscheinung von Alkohol gesehen hat, und beide Fälle ziemlich unterschiedlich aussehen.
Bel klettert über das Gatter und lässt sich neben dem Körper auf die Erde fallen. » Ich weiß nicht mal, ob sie atmet«, sagt sie. » Oh mein Gott, Jade, ich glaube, sie ist wirklich verletzt.«
Jade steht einfach da. Bel funkelt wütend zu ihr hoch und schlägt ihr mit einer staubigen Hand aufs Bein. » Jade!«, schreit sie. » Hilf mir!«
Jade erwacht zum Leben und wirft sich neben sie. Sie packt Chloes Hand – die auf der Erde, nicht die unter ihrem Rücken – und presst ihr einen Daumen aufs Handgelenk, wie sie es die Ärzte in dieser Krankenhausserie General Hospital hat tun sehen.
Sie fühlt nichts, weiß aber auch nicht, was sie fühlen soll, und
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