Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
Aufschlagstellen sind kleine Stücke abgeblättert. Sie hebt ihn mit zwei Fingern auf und lässt ihn, eigentümlich fasziniert, vor ihrem Gesicht baumeln. Das wird bei der Behörde für Arbeitssicherheit bestimmt gar nicht gut ankommen, denkt sie. Und irgendwen wird es den Job kosten.
Sie lehnt den Arm über das Schutzgeländer und wirft den Koppler darüber. Sieht zu, wie er sich nach unten schraubt, von einer Welle erwischt und von ihr verschluckt wird. Sieht ihn noch etwa dreißig Zentimeter weitersinken, nachdem er ins Wasser eingedrungen ist; ist beeindruckt von der Sauberkeit des Meeres bei Whitmouth, dass man überhaupt etwas darin erkennen kann. Jetzt wird das Meer sein Werk tun. In diesen endlosen, unruhigen Tiefen bleibt nichts lange, was es einmal war. Selbst wenn sie danach suchten, den Koppler fänden und Kirstys Fingerabdrücke noch darauf wären, gäbe es keine weiteren Verbindungen zu diesem Verbrechen.
Ein Geräusch zieht ihre Aufmerksamkeit auf sich. Martin hat drüben auf dem Boden zu krampfen begonnen. Wie Kolben trommeln seine Absätze auf das Holz, die Finger kerzengerade durchgedrückt und zerbrechlich. Es wird nicht mehr lange dauern. Selbst wenn sie einen Krankenwagen riefe, wären seine Überlebenschancen gering, denkt sie, sich an die Todesopfer erinnernd, die sie schon gesehen hat. Seine Haut ist blau angelaufen, und was von seinen Lippen übrig ist, ist so weit zurückgezogen, dass man die Weisheitszähne sieht. Sie geht nicht zu ihm. Niemand wird sein Ableben betrauern, das weiß sie bestimmt, und wenn sie dieses Opfer bringt, will sie sicherstellen, dass es nicht umsonst ist.
Sie zieht noch ein letztes Mal an der Zigarette und wirft sie dem Koppler hinterher. Eine Möwe stürzt herab, in der Hoffnung auf einen Leckerbissen, und fegt mit empörtem Kreischen wieder davon. Zu ihrer Überraschung ertappt sie sich dabei, dass sie lächelt. Ich sollte diese letzten Minuten auskosten, denkt sie. Vermutlich wird es das letzte Mal sein, dass ich das Meer sehe.
Neben der Haltestelle steht eine Bank aus weiß lackiertem Schmiedeeisen mit einem schönen Blick auf das Funnland. Hinter den Mauern werden ihre Freunde– ihre ehemaligen Freunde– gerade fertig: wischen die letzten Flächen ab und räumen gähnend und mit einem Seufzer der Erleichterung ihr Zeug zusammen. Sie sitzt da und betrachtet die Aussicht: Fahnen und Wimpel, die blauen und weißen Streifen der Baumwollmarkisen, das Glänzen regennasser Steine, in denen sich frühmorgendliche Strahlen fangen. Oben auf der Achterbahn klettern vorsichtig drei winzige Gestalten herum: entweder ein Wartungstrupp oder irgendwelche Teenager, die sich an Jason Murphy vorbeigemogelt haben und ihr Unsterblichkeitsgefühl zelebrieren. Du bist kein besonderer Ort, Whitmouth. Aber meiner. Der einzige Ort, den ich jemals, wenn auch nur für kurze Zeit, als Zuhause betrachtet habe. Ich werde dich vermissen.
Sie steckt sich noch eine Zigarette an.
Ein anderer Abschied, ein Vierteljahrhundert zuvor. Amber erinnert sich an ihre Mutter, die sie im Untersuchungsgefängnis besucht. Sie kommt, in Kaschmir gehüllt, mit leeren Händen und sieht älter aus. Bel versucht, sich ihrer Mutter in die Arme zu werfen, und stößt auf eine ausgestreckte Hand, welche die Annäherung abblockt. » Lass«, sagt Lucinda. » Lass es einfach.«
Sie dürfen nicht allein miteinander sein– Bel begreift langsam, dass sie praktisch nie wieder allein sein wird–, doch die diensthabende muskulöse Beamtin mit dem Kurzhaarschnitt gewährt ihnen so viel Privatsphäre, wie sie kann, indem sie auf der anderen Seite des Gemeinschaftsraumes sitzen bleibt. Bel hockt auf einem fleckigen Tweedsessel ohne Armlehnen und mit röhrenförmigen Beinen. Lucinda wählt, nachdem sie sich flüchtig umgesehen hat, einen Schalenstuhl aus Plastik, der neben einem Tisch in gut eineinhalb Metern Entfernung steht, und lässt sich vorsichtig darauf nieder, als hätte sie Angst vor Ansteckung. Beide Sitzgelegenheiten sind am Boden fixiert– eine Vorsichtsmaßnahme gegen Kampfhandlungen. Sie stellt ihre Handtasche auf den Tisch, platziert wachsam einen Ellbogen auf dem Schulterriemen, obwohl sie hier die einzigen Menschen sind. Elegant schlägt sie die Beine übereinander. Sie trägt zierliche Stiefel aus grünem Leder mit Keilabsätzen.
» Wie geht es dir?« Es klingt nach nicht mehr als höflicher Besorgnis.
Bel antwortet so, wie man es ihr von frühester Kindheit an beigebracht hat. Sie setzt ein
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