Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
gingen seine Eltern nur in ein Geschäft, um etwas zu ersetzen, das wirklich abgenutzt war. Nie verbrachten sie ihre Zeit damit, Haushaltsauflösungen von Landhäusern auf der Suche nach neuen Möbelstücken zu durchforsten oder Vorhänge auszutauschen, nur weil ihnen die Muster nicht mehr gefielen, so wie er und Kirsty es tun.
Auf Zehenspitzen geht er am Zimmer seiner Mutter vorbei und betritt das Badezimmer. Weiße Kacheln, sorgsam ausgewählt, damit sie mit dem– eher mutwilligen– dunkelgrünen Linoleumboden harmonieren, Waschbecken, Badewanne und Toilette in schlichtem Weiß und gut hundert Jahre nach ihrem ursprünglichen Einbau noch immer einwandfrei. Der Raum duftet nach Lavendel und Puder. Altdamengerüche, denkt er fast, nur dass das Badezimmer seiner Eltern schon immer so duftete und dies zu den ersten Geruchserinnerungen seines Lebens gehört. Mit einem Mal wird er von Nostalgie überwältigt, eine merkwürdige Sehnsucht nach etwas, das es immer noch gibt. Was, wenn sie ausziehen muss? fragt er sich. Wenn sie in ein kleineres Domizil umziehen und sich entscheiden muss, welche Habseligkeiten sie mitnimmt? Mich würde das umbringen. Ich glaube, ich würde mich zu Tode heulen.
Er öffnet die Spiegeltür des Arzneischränkchens und tastet sich durch dessen Bestände, wobei er sich, wie immer, wenn er in den Sachen anderer stöbert, ein wenig wie ein Einbrecher und Schnüffler vorkommt. Seine Mutter nimmt cholesterinsenkende Mittel, stellt er fest. Er muss daran denken, sie morgen danach zu fragen. Und wie es ihrer Arthritis geht. Der erste Abend ist immer so hektisch mit der Begrüßung, all den Neuigkeiten und den vielen Koffern, die man unter dem Bett verstauen muss. Sie kommen selten zu Familienthemen, bevor nicht sämtliche Einzelheiten über die Beerdigungen der Eltern seiner Schulkameraden abgehandelt sind. Er findet das Ibuprofen neben den Rennies, dem Paracetamol und einem weiteren Medikament gegen Erkältungen. Er kippt sich ein paar Tabletten in die Hand und nimmt sie mit in die Küche.
Kirsty ist mit dem Geschirr fertig und bearbeitet nun die Töpfe. Sie schrubbt sie mit einer Konzentration, die ihm ihre Anspannung verrät. Wir haben bis jetzt noch nicht geredet, denkt er. Ein weiteres Gespräch, das wegen notwendiger Tätigkeiten beiseitegeschoben wurde. Ich hasse es, im Streit auseinanderzugehen. Wir müssen einander versichern, dass es uns leid tut. Er geht zu ihr hinüber und hält ihr die Tabletten hin. Kirsty zieht die Gummihandschuhe aus, wischt sich eine Strähne aus der Stirn und nimmt sie.
» Danke«, sagt sie.
» Du hast mir noch nicht erzählt, wie du das angestellt hast.«
Sie hat Ringe unter den Augen und wirkt leicht gehetzt. Himmel, sie ist müde, denkt er. Ich muss dafür sorgen, dass sie morgen im Bett bleibt, auch wenn ihr das vielleicht peinlich ist. » Ach, ganz saublöd«, erklärt sie. » Dieser verdammte Kiesstrand. Keine Ahnung, wie man dort laufen kann, ohne sich ein Bein zu brechen.«
» Strand? Du warst am Strand?«
Sie errötet leicht. » Oh, mach dir keine Sorgen, Jim«, sagt sie. » Da waren massenhaft Leute. Ich gehe in Whitmouth nirgendwo mehr allein hin.«
» Na ja, danke, dass du heimgekommen bist«, meint er und berührt ihre Schulter. » Das bedeutet mir eine Menge.«
Einen Moment lang wirkt sie, als wolle sie gleich in Tränen ausbrechen. » Ja. Tut mir leid. Tut mir wirklich leid, Jim. Ich bin eine schlechte Ehefrau.«
» Nein.« Er schaut ihr fest in die Augen, will unbedingt, dass sie ihm glaubt. » Du bist eine wunderbare Ehefrau. Mir tut einfach leid, dass ich laut geworden bin.«
» Ich werde mich bessern«, verspricht sie. » Das kommt nie wieder vor.«
» Pscht«, macht Jim und schließt sie, noch am Spülbecken, in die Arme. » Pscht, Kirsty, alles okay. Ich werde mich auch bessern.«
» Ihr seid alles«, sagt sie. » Nichts ist wichtiger als ihr. Das sollst du wissen. Ich wollte dich nie absichtlich verletzen. Das musst du wissen.«
Er streichelt ihr übers Haar und flüstert noch ein » Pscht!« hinein. » Du bist das Beste, das mir je passiert ist. Du erst machst mich zu einem vollständigen Menschen.«
Die Standuhr in der Halle surrt und wird gleich zur vollen Stunde schlagen. Über ihre Schulter hinweg wirft er einen Blick auf die Uhr am Herd und sieht, dass es fast zweiundzwanzig Uhr ist. Sie sehen immer die Nachrichten um zehn; die sorgen für ihre emotionale Stabilität, sind für ihre Routine genauso lebenswichtig wie die
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