Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
Unterschied zwischen Gut und Böse beizubringen.«
Die verspiegelte Glastür des Hotels öffnet sich, und einige Repräsentanten der New Moral Army kommen heraus, unter dem Arm die Plakate, mit denen sie kurz zuvor die Konferenzsuite dekoriert haben. Kirsty grinst. » Du klingst, als wolltest du bei diesem Haufen anheuern.«
Stan lacht. » Ja, stimmt. Trotzdem. Wie viele Wörter musst du nachher über diese Typen zusammenkratzen?«
» Ungefähr sechshundert. Für die Nachrichtenseite. Und du?«
» Genauso viel. Aber als Feature.«
» Glückspilz.« Features lassen den Autoren gewöhnlich mehr Spielraum, ihre Meinung zu äußern, Analogien zu ziehen und Gemeinsamkeiten der aktuellen Story mit älteren Geschichten in Erinnerung zu rufen. Was in einem Fall wie diesem ein Segen sein kann. Die Präsentation, an der sie hat teilnehmen müssen, hat fünfzehn Minuten gedauert und aus einer Rede von moralischer Inhaltslosigkeit à la Cameron bestanden, gefolgt von einem ausweichenden Frage-und-Antwort-Spiel à la New Labour. Sie wird sich schwertun, ihrem Aufnahmegerät ein paar hundert zitierfähige Wörter zu entlocken, und ihr Stenoblock ist meist voll verzweifelter Schnörkel zur Beschreibung der Ausstattung. » Hast du jetzt irgendeine klarere Vorstellung als vorher, was die überhaupt wollen?«
Stan schüttelt den Kopf. » Die Welt liegt in Scherben, DESHALB MUSS ETWAS GESCHEHEN ? Etwas in der Art.«
» Hm«, sagt Kirsty. » Denke ich auch. Und was ist dieses Etwas?«
» Frag nicht mich«, sagt er. » Dieser Gibson hat sein Geld doch mit › Was würde Jesus tun?‹– Merchandising gemacht, oder? Der Spruch stand auf Schlüsselanhängern und Flipflops und so, stimmt’s?«
» Stimmt.«
» Schön, dann wird er wohl tun, was auch Jesus getan hätte, oder nicht?«
» Da ist was dran.«
» Obwohl ich der Auffassung bin, Jesus hätte als Erstes einmal für Sandwichs gesorgt. Was steht für dich in dieser Woche noch so auf dem Plan?«
Unbehaglich zuckt Kirsty die Achseln. Während des Sommerlochs bleibt aller Welt nichts anderes übrig, als alte Nachrichten wieder aufzuwärmen– eine ziemliche Durststrecke für freischaffende Journalisten. Besonders für solche mit einem arbeitslosen Ehemann. » Nicht viel. Ich bemühe mich um eine Position mit regelmäßigeren Arbeitszeiten, aber sie beißen nicht an.«
» Ich weiß, was du meinst. Mein Bezirk ist mittlerweile so groß, dass ich mir ein Wohnmobil zum Pennen anschaffen will. Ich komm kaum noch nach Hause im Moment.«
Kritisch mustern sie die jungen Gefolgsleute von Dara Gibson. Dunkle Anzüge, ordentliche Haarschnitte. Sie sehen in der Tat geschäftsmäßig aus.
» Was wir bräuchten, ist ein hübscher, interessanter Serienkiller«, sagt Stan. » Oder eine Industriekatastrophe. Irgendwas, das uns über die Sauregurkenzeit bringt.«
» Hm«, pflichtet Kirsty ihm bei. » Aber bloß nichts zu Glamouröses, sonst schicken sie Leute aus London her, die uns die Arbeit wegnehmen.«
Gerade in diesem Augenblick geht jemand aus London vorbei: Sigourney Mallory vom Independent, die in ihr Handy spricht und sie ignoriert. Die beiden freien Journalisten beäugen sie argwöhnisch. » Was tut die denn hier?«, fragt Kirsty.
» Keinen Schimmer«, sagt Stan. » Sich unters gemeine Volk mischen. Die ist doch seit Jahren nicht außerhalb des Londoner U-Bahnnetzes gewesen.«
Die Versammlung ist für ein Ereignis von so geringer Bedeutung ungewöhnlich gut besucht gewesen. Tagtäglich gründen Menschen irgendeine politische Interessenvereinigung. Nach den Parlamentsferien würde es wieder echte Nachrichten geben, sodass die NMA dann mit ihrer Präsentation allenfalls eine Kurzmeldung bekommen hätte. » Glaubst du, das sind vielleicht Scientologen?«, fragt Stan. » So aussehen tun sie allemal.«
Kirsty schüttelt den Kopf. » Zu viel Jesusgequatsche, nicht genug Verschwörungstheorie. Nein, das ist das Prestigeprojekt eines reichen Mannes, mehr nicht. Hier gibt’s nichts mehr zu holen. Lass uns gehen.«
» Genau«, sagt Stan. » Ich hab an der Umgehungsstraße einen Pub gesehen, in dem es auch was zu essen gibt. Kommst du mit?«
Kirsty hüpft von der Mauer und wirft sich ihre Tasche über die Schulter. » Nein, ich muss heim und meinen Bericht senden.«
» Himmel«, sagt Stan. » Sende doch aus dem Pub wie jeder normale Mensch.«
Das Handy in ihrer Tasche klingelt. Sie holt es heraus und schaut aufs Display. Rufnummer unbekannt. Das muss die Tribune sein oder die
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