Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
kann es nicht ertragen, wieder anzufangen. Vic hat so viele gute Eigenschaften, aber er kann seinen Groll wochenlang pflegen und das Haus in frostiges Schweigen tauchen. Während ihrer Schicht hatte sie fast schon befürchtet, wieder einmal solch eine Phase vor sich zu haben, bis ihre Entdeckung diesen Gedanken verdrängte. Wahrscheinlich hat er deshalb sein Handy ausgeschaltet, überlegt sie. Aber ich werde jetzt nicht nachfragen. Nicht, wenn er so nett ist.
» Also, wie war es?«, fragt er plötzlich wieder. » Ich nehme mal an, du hast so etwas noch nie vorher gesehen, oder?«
Sie dreht sich zu ihm um und sieht ihn an. Sie weiß nicht, was sie erwartet hat, aber sein deutlich genüsslicher Blick überrascht sie. Er versteckt ihn rasch hinter einer besorgten Miene, aber trotzdem ist ihr sein Gesichtsausdruck nicht entgangen, und sie findet es abstoßend. Für dich ist das nicht real, denkt sie, nichts davon. Nicht das Mädchen unten am Pier und auch nicht die, die man in der Mare Street zwischen Mülltonnen im Hinterhof gefunden hat. Aber jetzt sind es tatsächlich drei, und nur ein Idiot würde sich nicht fragen, ob es derselbe war, der das getan hat. Wahrscheinlich findest du es umso aufregender, weil Whitmouth endlich ins Licht der Öffentlichkeit gerückt ist. Aus dem gleichen Grund lesen die Leute jeden Tag die Zeitung: Solange es sich nicht um die eigene Familie oder eigene Freunde handelt, ist ein Mord kaum mehr als ein abendlicher Kinobesuch– etwas, worüber man im Pub ausgelassen diskutieren kann.
Das Gesicht des Mädchens kommt ihr wieder in den Sinn, ihre aufgerissenen Augen und die schwärzlichen, spinnwebartigen Adern auf den dunkelvioletten Wangen. Der Tod, so unnatürlich und doch so vertraut: der Schock, die gähnende Leere in diesen blutunterlaufenen Augen. So sieht er immer aus. Niemand stirbt und sieht aus, als ob er ihn erwartet hätte.
» Es war…« Sie muss über ihre Worte nachdenken. Bemüht sich, sich ihre Gefühle ins Gedächtnis zu rufen und ihre Reaktion auf die Szene von der Panik zu trennen, die sie kurz darauf in Bezug auf sich selbst befiel. » Ich weiß nicht. Es ist seltsam. Ich war wie in einer Blase. Als ob ich mich selbst beobachtete. Ich hatte das sonderbare Gefühl, gar nicht dort zu sein.«
Vic lehnt sich zurück und öffnet seine Nachttischschublade. Er fischt den Ventolin-Inhalator heraus. Inhaliert einmal. » Ich wette, du hattest Angst«, sagt er mit dünner Stimme, weil er den Atem anhält. » Hast du einen Augenblick lang vielleicht sogar gedacht, man könnte dich verdächtigen?«
» Vic!« Sie ist empört. » Mein Gott!«
» Sorry«, sagt er. Atmet aus.
19 UHR
» So können wir nicht nach Hause.«
Sie stehen sich auf der Weide gegenüber, bis zu den Waden in Wiesenkerbel. Die Sonne steht tief, strahlt aber noch hell und beleuchtet die beiden verschmierten und verdreckten Figuren. Bel sieht auf ihre Hände hinunter; ihre Nägel sind abgebrochen und schwarz vom Graben. Dann schaut sie Jade wieder an. Auch sie starrt vor Dreck. Auf Armen und Schienbeinen Erde und Flechten, Blattfetzen und Zweige, Kratzer von Dornen und Baumrinde.
» Meine Mum bringt mich um«, sagt Jade.
» Keine Aufregung«, sagt Bel. » Schmeiß alles einfach schnell in die Waschmaschine. Dann legt sie Sachen obendrauf und merkt’s nicht mal.«
Jade ist erschreckt. Im Haushalt der Walkers gibt es keine Waschmaschine. Sie hat immer gedacht, so etwas gäbe es nur in Waschsalons. Dass Bel voraussetzt, sie hätten eine, unterstreicht die gähnende Kluft, die zwischen ihnen herrscht. Jades Mutter wäscht die Sachen mit der Hand, weicht montagabends alles auf einem Haufen im Bad ein, am Dienstag dann schrubbt sie alles und wringt es keuchend aus, bevor sie es mit Klammern auf das Gewirr aus Leinen hängt, das sie sich im Hof zurechtgebastelt hat. Auch ihre Kleidung macht Jade in der Schule zum Außenseiter: Sie trägt nur abgelegte Klamotten älterer Geschwister, die im Vergleich zu denen ihrer Altersgenossen grau und fadenscheinig sind. Jeder weiß, dass die Walkers schmutzig sind und keine Selbstachtung haben; schließlich versäumt man nicht, ihr das täglich zu versichern.
» Ich kann nicht, sie …« Selbst jetzt ist sie nicht bereit – vor diesem Mädchen mit ihrer geschliffenen Aussprache und ihren Levi’s-Jeans –, die ganze Wahrheit zu bekennen. Sie hat keine Freunde, und diese neue, schillernde Person würde auf der Stelle aus ihrem Leben verschwinden, wenn sie das gesamte
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