Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
dass die anderen Kinder Lynchjustiz für das verdienen, was ihre Brüder getan haben?«
Lionel schnaubt erneut. » Das ist genau dieses verworrene liberale Denken, das überhaupt erst zu Situationen wie dieser führt.«
Sie kann spüren, wie sich Jims verworrene liberale Nackenhaare sträuben. Nicht, denkt sie. Tu’s bitte nicht. Du darfst dich auf keinen Streit einlassen, ihn nicht wütend machen. Lass ihn glauben, dass du an seinen Lippen hängst und jedes seiner kostbaren Worte bewunderst. Nicht, nachdem wir diesen ganzen Aufwand betrieben haben.
» Jemand noch etwas Wein?«, sagt sie eilig. Die beiden Frauen stimmen wortreich zu, loben die Wahl der Rebsorte, machen sich übertriebene Sorgen um die Gläser ihrer Männer: Sie haben ebenfalls begriffen, dass es gleich zu Meinungsverschiedenheiten kommt, und schließen sich zusammen, damit alles nett und gesittet bleibt. Lionel nimmt keinen Wein. Kirsty fragt sich, ob er sich amüsiert; ob er weiß, weshalb er eingeladen wurde, und die Machtlosigkeit und Widerspruchslosigkeit der Runde jetzt gnadenlos ausnutzt.
» Tatsache ist doch«, sagt er, » dass wir zum Wohle der Gesellschaft die Identität dieser mörderischen kleinen Ungeheuer erfahren und sie einsperren sollten– und zwar, bevor sie ein weiteres Kind umbringen. Wir scheinen uns für die Opfer überhaupt nicht mehr zu interessieren. Alles dreht sich immer nur um den Straftäter. Der arme kleine Gauner, lasst uns Entschuldigungen suchen. Und ja– die Öffentlichkeit sollte wirklich vor ihnen beschützt werden. Und vor Ihresgleichen.«
Die Worte platzen heraus, bevor sie sie zurückhalten kann. Ihr ist, als würde ihr gleich das Herz aus der Brust springen. » Aber sie sind zwölf Jahre alt!«
» Genau!«, gibt er zurück. » Das sagt doch alles. Es geht früh los. Man kann sich nicht einfach hinstellen und sagen, ach, die armen kleinen Kinder! Weil nämlich das arme kleine Kind einer anderen Familie am Ende tot ist.«
» Aber ihre Brüder und Schwestern haben nicht das Geringste getan!«
» Noch nicht«, sagt er und starrt sie an. » Noch nicht«, wiederholt er.
Es ist einen Moment lang still. Ich muss aufhören, denkt sie. Ich bin kurz davor, hier auf einen loszugehen.
Sue hat offensichtlich ähnliche Gedanken. Hastig verputzt sie den letzten Rest Lachs auf ihrem Teller. » Also, ich muss sagen, das war wirklich ein Genuss!«, sagt sie strahlend. » Graved Lachs, das muss ich mir merken.«
» Hier«, sagt Jim mit grimmiger Miene, » lassen Sie mich Ihren Teller nehmen.«
Sie folgt ihm mit den restlichen Tellern in die Küche. Er kippt die Zuckerschoten ins kochende Wasser. In ihrem Kopf bohrt sich ein hoher Heulton wie ein Dorn in ihr Gehirn. Sie schnappt sich ein neues Glas Wasser, trinkt es aus und betet verzweifelt um Linderung. Ich trinke nie wieder Alkohol, verspricht sie sich im Stillen einmal mehr.
» Was kann ich tun?«, fragt sie.
» Dich nicht so betrinken, dass du am nächsten Tag zu nichts zu gebrauchen bist«, brummt er.
» Lieber Himmel, Jim. Ich hab mich entschuldigt. Es tut mir leid. Ich gebe mein Bestes.«
» Na ja«, sagt er, » es geht ja nicht nur um heute.«
» Das ist unfair. Total unfair, Jim!«
» Finde ich gar nicht«, sagt er.
» Bitte, bitte nicht jetzt.« Das Wasser reizt ihren Magen. Sie spürt, wie es schlingert und sich ihre Speiseröhre verkrampft. O Mist, denkt sie. Ich schwöre, nie wieder zu trinken. Niemals wieder. Ich schwöre.
» Wir müssen über deine Trinkerei reden«, sagt er.
» O, Mann! Als ob du noch nie einen Kater gehabt hättest!«
Jim schüttet die Zuckerschoten ins Sieb. » Du weißt genau, wie wichtig es war, dass wir heute Abend gut abschneiden«, sagt er. » Versuchst du, mich zu sabotieren?«
Kirsty würgt. Schlägt die Hand vor den Mund und flüchtet aus dem Raum. Hört im Gehen sein geflüstertes » Mein Gott«.
In letzter Sekunde schafft sie es zur Toilette im unteren Stockwerk. Fällt würgend über der Schüssel auf die Knie, als ein Schwall aus alten Getränken, Wasser, dem Wurstsandwich vom Morgen und der Vorspeise des heutigen Abends aus ihrem Körper gepumpt wird. In den frühen Morgenstunden muss sie aufgehört haben zu verdauen. Als alles heraus ist, fühlt sie sich augenblicklich besser. Glücklicherweise hat sie den Trick, sich lautlos zu übergeben, schon gelernt, als sie beim Mercure anfing . Er hat ihr gute Dienste geleistet.
Einen Moment bleibt sie gegen den Sitz gelehnt knien und wartet darauf, dass das
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