Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
Drecksnest. Also: genauso schlimm?«
Sie überlegt. Sie hat schon etliche Male in Southend zu tun gehabt. Ein dankbares Pflaster, wenn man nach Stories über Verbrechen sucht. » Ja«, sagt sie. » Hat aber Kiesstrand, wie Bognor.«
» Ahh, Bognor«, meint er, als gäbe es nicht mehr dazu zu sagen.
Die Unterhaltung gerät ins Stocken. Kirsty schaut auf ihren Teller und sucht verzweifelt nach einem neuen Gesprächsthema. Und kämpft gegen die Übelkeit. Sie merkt, dass Jim darauf brennt, über freie Stellen zu sprechen, aber dafür ist es noch zu früh. Damit müssen sie warten, bis die Crème brulée auf dem Tisch steht. Man darf niemals direkt über Geschäftliches sprechen, bevor man bei der Crème brulée angelangt ist. Sie kann spüren, wie ihr allein schon von der Berührung des Weins auf ihren Lippen heiß wird. Denkt, dass sie vermutlich gleich einen Schweißausbruch bekommen wird.
In der Küche geht die Eieruhr los: Zeit, das Fleisch aus dem Herd zu nehmen und die Zuckerschoten aufzusetzen. Sie entschuldigt sich und geht hinaus.
Sie nimmt die Schweinelende aus dem Backofen und legt sie auf eine Platte. Dann geht sie an den Kühlschrank und findet eine Tüte Tiefkühlerbsen, um sie sich an die Stirn zu drücken. Sie ist näher an der Vierzig als an der Dreißig, empfindet gesellschaftliche Konversation jedoch immer noch als Strapaze. Und das auch ohne eine professionelle Hausherrin wie Sue Baker an ihrem Tisch. Kirsty hat gesehen, wie ihr Blick durchs Wohnzimmer und das Esszimmer streifte, auf der Suche nach Hinweisen auf Nichtkonformes oder Schmutz.
Komm schon, Kirsty. Irgendwas wolltest du hier machen. Nur was?
Sie presst sich die Erbsen in den Nacken und überprüft die Küche auf Anzeichen von Unordnung. Sue ist genau die Sorte Mensch, die darauf bestehen wird, beim Abräumen zu helfen, um besser herumschnüffeln zu können. An der Kühlschranktür haften, unter Magneten mit Motiven aus der Sixtinischen Kapelle, Notizzettel, Listen und Fotos. Auf einer Korkpinnwand die Stundenpläne der Kinder: Di. 17 h: Sophie Klavier; Mi. 18 h: Luke Fußball; Sa. 10 h: Schwimmen. Sophie hat die übriggebliebenen Pinnnadeln zu einem Herzen arrangiert– neben Robert Pattinson derzeit ihr Lieblingsmotiv. Sie haben die üblichen Cornflakes-Packungen weggeräumt, genau wie die Schulranzen von den Arbeitsflächen; jetzt steht nur noch eine geöffnete Flasche exzellenter Bordeaux (Gegenwert: zwei Schuluniformen bei Tesco) zum Atmen neben dem frisch gesäuberten Gewürzständer, daneben wummert leise die Geschirrspülmaschine. Eine gewöhnliche Mittelklasseküche, denkt sie, herausgeputzt, um die Lucas-Jones zu beeindrucken. Meine Mutter hätte gesagt, ich sei ein Snob, weil keine Hühner unter dem Tisch sitzen.
Sie besinnt sich darauf, was sie noch zu tun hat. Gießt Wasser aus dem Kessel in eine Pfanne und stellt sie auf den Herd. Weiß der Himmel, was sie sagen werden, wenn ich ihnen Zuckererbsen auftische, denkt sie.
I m Esszimmer ging die Unterhaltung derweil weiter. » Ich versteh einfach nicht«, sagt Lionel gerade, als sie zurückkehrt, » warum man ihnen Anonymität zugesteht. Das ist heutzutage anscheinend immer so, stimmt’s? Alles wird verdreht zugunsten des Täters, und an das Opfer wird kein Gedanke verschwendet. Schreiben Sie auch mal über so etwas?«
» Entschuldigung«, sagt sie, » ich habe den Anschluss verloren.«
» Kind F und Kind M.«
» Oh, nein. Sleaford liegt außerhalb meines Bereichs, fürchte ich. Aber ein Freund von mir. Er fand es sehr deprimierend.«
» Genau das habe ich gerade gesagt. Es ist abartig.«
» Ja…«, sagt sie vage. » Schrecklich. Das arme Kind.«
» Nein, nicht nur das. Sondern die Art und Weise, in der das Establishment sich aufgeschwungen hat, diese kleinen–« er stockt; offenbar hat er gerade » Arschlöcher« sagen wollen– » Fieslinge, die das getan haben, zu schützen.«
» Nun, das Ganze ist noch nicht abgeschlossen«, sagt Jim. » Sie wollen doch sicher auch, dass die beiden einen fairen Prozess bekommen?«
» Fairer Prozess?«, schnaubt Lionel. » So was gibt’s im Kino, Herrschaft noch mal!«
Kirsty spürt, wie ihr die Röte ins Gesicht steigt. Solche Unterhaltungen findet sie immer schwierig, fühlt sich ungeschützt, bedroht. Ein kleiner paranoider Teil von ihr fragt sich, ob das Thema aufgekommen ist, weil irgendjemand mehr über sie weiß, als er preisgibt. » Aber sie haben Geschwister«, protestiert sie. » Sie glauben doch sicher nicht,
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