Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
Küchentisch liegenlassen hat.
Zur Teezeit nimmt sie Jackies Schlüssel und geht mit den Hunden zu Jackies Wohnung, um ihr von dort ein paar frische Kleider zum Wechseln zu holen. Sie trägt ihren Trainingsanzug jetzt schon seit zwei Tagen, was man jetzt, da er feucht ist, nicht mehr ignorieren kann. Außerdem hindert ein Spaziergang sie am Grübeln. Auf der Wordsworth gibt es immer irgendetwas zu sehen oder zu erledigen, immer genügend Anregung von außen, um ihre Gedanken in Schach zu halten.
Der scharlachrote Schriftzug, der Jackies Wohnblock von den umliegenden gleichermaßen grauen Gebäuden unterscheidet, hat sich schon vor langer Zeit teilweise gelöst. 13–19– OLE - IDGE – ESCEN – steht jetzt da. Eine alte Matratze, fleckig von der salzigen Luft und unzähligen nächtlichen Eskapaden, lehnt neben den Mülltonnen an der Wand. Jedermann weiß, dass die Stadt das Zeug irgendwann schon abholen wird, auch wenn man die Sperrmüllgebühren nicht zahlt. Gegen Ende der jeweils sechsmonatigen Wartefrist sind die Bürgersteige der Siedlung mit Betten ohne Beine, Sofas mit kaputten Federn und angekokelten Wohnzimmertischen übersät; derlei Mobiliar ist ein beliebter Anziehungspunkt für die Teenager der Stadt, so wie für sie früher die Bank in Long Barrow.
Der Aufzug funktioniert nicht. Sie stapft die drei Treppen zum Apartment 191 hoch.
Obwohl Jackie erst drei Tage weg ist, riecht es abgestanden in der Wohnung. Tabak, Essensreste und dieser schwache Muff, der bei Wärme immer aus ihrem Teppich aufsteigt, mischen sich mit dem künstlichen Duft eines Lufterfrischungssprays im Flur. Eine offene Mülltüte mit Schmutzwäsche steht neben der Wohnungstür und wartet darauf, in den Waschsalon gebracht zu werden. Amber dreht sie zu und verknotet sie. Sie kann sie ebenso gut gleich mit hinunternehmen, da sie auf dem Rückweg ohnehin an dem Laden vorbeikommt. Sie geht ins Wohnzimmer. Den Couchtisch mit Holzfaserplatte ziert ein überquellender Aschenbecher in der Größe eines Planschbeckens. Ein paar Teller mit angetrockneten Fett- und Ketchup-Spuren stehen daneben, außerdem ein Pint-Glas, das eindeutig Bier enthalten hat, denn an den Innenwänden klebt angetrockneter Schaum.
In der Küche ein paar Töpfe in der Spüle und auf dem gelblichen Resopal die leere Verpackung eines Fertiggerichts. Jackie ist keine große Hausfrau, aber auch nicht schlampig. Außerdem kann man jemanden nicht danach beurteilen, wie er in einer Krise seinen Haushalt führt. Nachdem sie aus Blackdown entlassen worden war, hat Amber genug Zeit in möblierten Zimmern verbracht und genug Wohnungen gesehen, um zu wissen, dass Jackies Selbstbewusstsein noch nicht ganz im Keller ist. Sie entsorgt die Verpackung, spült schnell die Töpfe und Teller ab und stellt sie zum Trocknen auf den Geschirrständer.
Im Schlafzimmer ist es schummrig, die Vierzigwattbirne der Deckenlampe ist zu schwach, um es richtig zu beleuchten. Amber zieht die Vorhänge auf. Schaut hinaus und sieht– was ihr einen leichten Schock versetzt– neben der verwucherten Forsythie gegenüber die offenbar regenresistente Gestalt von Martin Bagshawe stehen. Er muss nach ihr gekommen sein, denn bei ihrer Ankunft eben hat sie ihn nicht wahrgenommen. Vielleicht hat er sie kommen sehen und sich versteckt? Nein. Sei nicht paranoid. Er weiß nicht, dass du das am Telefon warst.
Für einen kurzen Moment treffen sich ihre Blicke. Sie duckt sich in den Raum zurück. Tja, jetzt allerdings schon, denkt sie.
Sie lässt den Blick über Jackies Habseligkeiten schweifen und empfindet Schuldbewusstsein, als stehle sie etwas oder lese ihr Tagebuch. Zerknäultes Bettzeug, ein halbleeres Wasserglas, ein Exemplar der Promigazette Heat und eine Nachttischlampe im Tiffany-Stil. Nicht viel Mobiliar: das Bett, ein Nachttisch, der Einbauschrank. Sie untersucht die hängende Garderobe und stellt überrascht fest, dass Jackie ein halbes Dutzend hübscher Kleider besitzt: fröhlich bunte Outfits aus Baumwolle mit Spaghettiträgern und großzügig geschnittenen Röcken. Amber ist so daran gewöhnt, sie in ihrer Arbeitskluft oder ihrem allgegenwärtigen Jeansminirock zu sehen, dass sie nie auf die Idee kam, ihr auch mal andere Stimmungen zuzutrauen. Sie legt einige in den roten Koffer, der neben dem Bett steht, fügt noch zwei Jeans von dem Stapel neben der Heizung dazu, außerdem zwei Hosen mit elastischem Bund und ein paar T-Shirts. Dann rafft sie die Kollektion an Reinigern und Cremes auf dem
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