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Im Schatten der Mitternachtssonne

Im Schatten der Mitternachtssonne

Titel: Im Schatten der Mitternachtssonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Coulter
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gefurchter Stirn. »Wir werden sehen. Noch ist nichts entschieden. Gar nichts.«
    Zarabeth schwieg. Sie wollte Magnus sehen. Sie verrichtete ihre Hausarbeit, badete Lotti und steckte sie unter die warme Wolldecke in ihrem Kastenbett. Olav und Keith tranken schweigend. Sie stellte einen vollen Krug Bier neben den Stiefvater, nahm ihren Wollumhang vom Haken und legte ihn sich um die Schultern. »Ich mache einen kurzen Spaziergang«, sagte sie und war gegangen, ehe einer der Männer Einspruch erheben konnte.

5
    Zarabeth wußte, es war gefährlich, nachts allein auf der Straße zu sein, obwohl in York seit einigen Jahren Frieden herrschte. Doch es gab Bettler, Gesetzlose, Raufbolde, die sich nachts in der Stadt herumtrieben und die Bewohner ausraubten. Deshalb hielt sie sich vorsichtig im Schatten der Häuser. Sie ging sehr rasch, beinahe lautlos. Der Mond hing als fahle Sichel am Himmel, und die Luft war regenschwer. Es war sehr dunkel und still. Sie konnte ihren eigenen Herzschlag hören.
    Sie wußte genau, wohin sie strebte, hielt den Blick geradeaus gerichtet, zum Steg am Fluß Ouse. Die Schutzwälle kamen in Sicht, groß und mächtig, und dahinter der kleine Hafen. Es lagen viele Boote am Steg, mit dicken Stricken an mächtigen Holzpfählen vertäut, die der Länge nach in den Grund des Flusses gerammt waren. Die meisten Boote waren Handelsschiffe der Wikinger. Ihr Blick wanderte suchend die Schiffsrümpfe entlang. Es waren so viele, und sie sahen alle gleich aus.
    Unschlüssig blieb sie stehen. Sie kannte nicht einmal den Namen seines Schiffs. Sie war entsetzt über sich selbst. Sie hatte einen Mann kennengelernt und sogleich den Verstand verloren. Sie benahm sich wie eine ausgemachte Närrin, und das war erschreckend, da sie normalerweise mit Bedacht handelte, ob in der Freude oder im Zorn. Doch nun war sie gedankenlos aus dem Haus und direkt zum Hafen gelaufen. Daran konnte sie nun nichts mehr ändern, und wenn irgendwelche Gesetzlosen auf sie lauerten, verdiente sie es nicht anders. Aber sie kehrte nicht um.
    Sie holte tief Luft und fuhr fort, jedes der Schiffe genau zu betrachten, deren große, viereckige Segel aufgerollt waren. Alles war still, die Seeleute schliefen, das einzige Geräusch machte das Wasser, das gegen die Bootswände schwappte. Sie hatte die späte Stunde nicht überlegt. Ganz leise ging sie von Boot zu Boot, die weichen Ledersohlen ihrer Schuhe machten kaum ein Geräusch auf den Holzplanken des Docks. Angst kroch in ihr hoch. Bei allen christlichen Heiligen, sie war wirklich eine Närrin! Was sollte sie bloß tun. Dann gewahrte sie ein Boot, das größer war als die anderen, mit elegant geschwungenem Bug, dessen Spitze Odins Rabe zierte, aus schwarzem Holz geschnitzt. Es war ein majestätisches Schiff, und sie wußte, daß es sein Boot war.
    Sie warf den Kopf in den Nacken und schrie: »Magnus! Magnus Haraldsson!«
    Jetzt hörte sie tiefes Männerlachen. Eine Reihe von Männerköpfen tauchten über der Bordwand auf. Waffen wurden sichtbar. Dann sprangen einige Männer leichtfüßig über Bord auf die Planken des Docks und blickten mit offenen Mäulern in ihre Richtung, redeten und deuteten mit den Armen auf sie. Kurz darauf hörte sie seine vertraute Stimme: »Ihr bleibt an Bord. Es besteht keine Gefahr. Es ist meine Herrin, die nach mir ruft. Jedem, der einen Schritt auf sie zumacht, schlitze ich die Kehle auf. Wenn sich uns ein Fremder nähert, kommt ihr mir zu Hilfe, und wir schlitzen ihm die Kehle auf.«
    Magnus schritt auf sie zu, sein Umhang blähte sich hinter ihm, sein Kopf war unbedeckt. Er wirkte unverletzbar und majestätisch wie sein Boot, und sie spürte, wie ihr Heisch sich erwärmte. Ihr Atem ging schneller. Er war ein kraftvolles, wildes Tier. Und in diesem Augenblick war ihr klar, daß sie ihn haben wollte, ihn und keinen anderen. Sie kannte ihn seit zwei Tagen, und es war so lange wie ein ganzes Leben. Sie zwang sich stehenzubleiben, und auf ihn zu warten.
    Magnus blieb dicht vor ihr stehen. Er sagte nichts, blickte nur auf sie herab, sein Gesicht ohne Ausdruck. »Mir war, als hörte ich eine Frau nach mir schreien, schrill wie das Krächzen einer Saatkrähe. Hast du es auch gehört, Zarabeth?« Er blickte über ihren Kopf hinweg nach links und nach rechts. »Nein, ich sehe sie nicht. Niemand schwimmt im Wasser, weder eine Seejungfrau noch ein Seedrachen, und dort drüben stehen nur bärtige Seeleute. Und alle träumten gewiß von Schätzen und schweren Truhen mit Silber

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