Im Schatten der Tosca
setztesich in einen Zug, einen klapprigen Bus, und schwupps fielen ihr die Augen zu. Beim Anblick ihrer übernächtigten Kollegen, die durch ihren Schlafmangel wirklich beeinträchtigt waren, kam ihr der Verdacht, dieses kindliche Schlafvermögen sei womöglich ihre wichtigste Gabe. Nun gut, es kamen auch noch andere Fähigkeiten hinzu, künstlerische Qualitäten, aber über die verfügte jeder der fahrenden Sänger. Was sonderbarerweise einigen abging, das war Selbstvertrauen. Bei den häufig wechselnden Regisseuren und Dirigenten barg das mancherlei Gefahr. Feiges Kuschen machte sich nicht bezahlt. Wenn dem Publikum etwas nicht gefiel, war es ihm egal, wer dafür verantwortlich war, und so hielt es sich eben an den Sänger.
Auf jeder Reise schloss Mariana neue Freundschaften, und immer häufiger traf sie auf alte Freunde und Bekannte. Auch Jens Arne Holsteen war darunter. Sie begegnete ihm zwar nur kurz auf dem Bahnhof, aber so viel sah sie doch: Die Pickel waren verschwunden und die ehemals strähnigen Haare zu einem modischen Bürstenschnitt zurechtgestutzt. Richtig flott sah er aus.
Viele ihrer Kollegen hatte Mariana das letzte Mal zu einer Zeit gesehen, in der noch nicht abzusehen war, ob sie Karriere machen würden. Jetzt erzählte man sich stolz und vergnügt die Erfolge und Pleiten und schwelgte in Erinnerungen: »Weißt du noch ... damals ... oh Gott . . .«, so ging das die halbe Nacht. Man lachte über verrutschte Perücken, vergessene Texte, verpatzte Einsätze, je absurder die Situation gewesen war, desto ergiebiger ließ sie sich aufbauschen. Häufig erwiesen sich gerade die Vertreter der schweren Fächer, die sonst nur leiden, morden oder sterben durften, als die witzigsten Erzähler.
Mariana hatte nach ihrem Entschluss, als freie Künstlerin zu arbeiten, etwas planlos eine Reihe von Angeboten angenommen und dabei leider nicht bedacht, dass vielleicht etwas anderesnachkommen könnte und sie dann blockiert sein würde. Bald geriet sie tatsächlich in die Klemme. Schon die erfolgreiche Südamerikatournee brachte neue Möglichkeiten, weitere ergaben sich nach der Rückkehr. Einige Offerten musste sie zähneknirschend absagen, andere stopfte sie in die letzten zeitlichen Löcher.
Rast- und ruhelos sauste sie jetzt von Stadt zu Stadt, sie kannte die Eisenbahnfahrpläne besser als jeder Zugbeamte. Eine weniger stabile Natur hätte das nicht lange durchgestanden, aber auch Mariana war drauf und dran, den Überblick zu verlieren. Jede noch so kleine Zeitverschiebung ließ sie zittern, und wo, um Himmels willen, fuhr sie dieser Zug gerade hin, nach Paris, nach Berlin, nach Wien?
Zum Glück besann sie sich auf ihren Kalender. Sie erstellte neue Listen, mit verschiedenfarbigen Stiften trug sie ihre Termine ein, die sicheren, die wackeligen, die heißersehnten, die möglicherweise verschiebbaren. Jede Änderung wurde sofort vermerkt, so dass auf einen Blick Mariana immer den neuesten Stand sah. Sie wurde wählerischer, und wo immer es möglich war, bestand sie auf einem Aufführungspaket. Zudem legte sie Wert auf eine ausreichend lange Probenzeit, besonders bei Neuinszenierungen. Dadurch konnte sie eine Zeitlang an Ort und Stelle bleiben, sie kannte inzwischen überall angenehme Hotels oder gemütliche Pensionen, und manchmal mietete sie sich auch eine kleine Wohnung. Dort hängte sie ihr Bild an die Wand, und schon fühlte sie sich wieder zu Hause.
Umso mehr, als sie jetzt auch die Menschen außerhalb der Oper kennenlernte. Sie schloss neue Freundschaften, es gab auch ein paar neue Flirts. »Bald bin ich wie ein Seemann: in jeder Stadt ein anderer«, schrieb Mariana vergnügt den Eltern. Gegen ein paar feurige Verehrer war wirklich nichts einzuwenden. Die sollten sie bewundern, umschwärmen, in die feinsten Lokale ausführen, zum Essen und Tanzen, und ihr ruhig auch Geschenke machen. Allerdings mussten sie nettund sympathisch sein, aufdringliche Widerlinge, selbst steinreiche, die Mariana ebenfalls umlauerten, blitzten bei ihr ab. Doch auch die Auserkorenen durften keine großen Gefühle von Mariana erwarten, ein wenig Verliebtheit von ihrer Seite war schon ein riesiger Erfolg. Noch leckte Mariana ihre Andreas-Wunden.
Aber sich immer nur auf der Bühne von einem Mann umarmen lassen, das wollte sie auch nicht. Sonderbarerweise oder auch zum Glück hatte sich Mariana noch nie in einen ihrer Partner verliebt. Auch gegen Dirigenten und Regisseure und das ganze sonstige Bühnenvolk schien sie immun. Dabei
Weitere Kostenlose Bücher