Im Schatten der Tosca
ging es bei der Arbeit durchaus »sinnlich« zu. Bei den heftigen Emotionen, dem Glühen der Musik, das in jede Pore drang, kam es zu richtigen Liebesgefühlen. Das Geschlecht war nicht entscheidend, es gab auch Augenblicke, da fühlte sich Mariana von heißer Liebe zu einer Partnerin erfüllt. Doch es war eine geistige Sympathie, etwas Reines, Freies, das nicht belastete, nicht klebrig hängenblieb. Wenn die Aufführung zu Ende war, ging sie über in ein warmes Gefühl von Zusammengehörigkeit. Dadurch entstanden besondere Freundschaften, zu kostbar, als dass man sie durch eine Liebelei »normalisieren« und damit womöglich aufs Spiel setzen mochte.
Gerade als sich Marianas neues Leben angenehm eingependelt hatte, kam aus Stockholm eine Schreckensmeldung. Ihr Vater hatte einen Herzschlag erlitten und war, noch nicht einmal sechzig Jahre alt, tot umgefallen. Überstürzt reiste Mariana nach Hause.
Die Mutter war vollkommen aufgelöst, stand unter Schock. Mariana war sich mit ihrem Bruder einig: Wenn die Mutter ihren Kummer überwinden sollte, musste sie heraus aus der alten Umgebung. Irgendwie musste sie auf andere Gedanken gebracht werden. Immer wieder hatte Mariana den Eltern geschrieben, sie müssten das nächste Mal mit dabei sein. Jetzt trat der Fall schneller ein und anders, als sie gedacht hatte.
Marianas nächste Etappe war Berlin. Meist wohnte sie in einer plüschigen Jugendstilpension in der Fasanenstraße. Dort stiegen Künstler aus aller Herren Länder ab, auch Asta Nielsen hatte dort schon »residiert«. Das letzte Mal hatte sich Mariana beim gemeinsamen Frühstück mit einem Dompteur und seinem Leopardenbaby angefreundet.
Auch ihre Mutter Birgit fühlte sich wohl in dieser etwas ungewöhnlichen Atmosphäre. Sie konnte recht gut Deutsch – und vom Singen verstand sie allemal viel. Sie ging mit zu den Proben und achtete mit scharfen Ohren auf jeden Ton. Von selbst hätte sie wahrscheinlich nichts gesagt, aber Mariana bettelte: »Wann bekomme ich schon einmal eine ehrliche, fachkundige Meinung zu hören?« Bald fachsimpelten sie munter miteinander, wie in Marianas Kindertagen.
Die Kollegen waren alle reizend zu Birgit. Ein paar von ihnen kannten sie schon von früher, kein Mensch hatte also etwas gegen die Zuhörerin hinten im Parkett, ganz im Gegenteil. Als Birgit einmal an einem Vormittag nicht kam, hieß es gleich: »Wo waren Sie denn? Sie sind unser Maskottchen, unsere Muse. Wir wissen nicht, ob wir gut waren heute Morgen.« Denn inzwischen wollten auch Marianas Kollegen von Birgit beraten werden. »Privat-Kritikerin an der Berliner Oper, Mama, du machst dich«, sagte Mariana und klopfte Birgit auf die Schulter.
Die erste Oper, die Birgit ohne ihren Mann miterlebte, war ›Figaros Hochzeit‹. Marianas Cherubino war ein aufgeregter, reizender Bursche, der kaum wusste, wohin mit seinen Liebesgefühlen. Jedes weibliche Wesen entflammte sein junges Herz. Noch hatte er eine kindliche Unschuld, sein stürmisches Werben machte den Frauen keine Angst, sie hatten Spaß mit ihm, und er gefiel ihnen auch, mehr als sie es selbst merkten. Und überall stand er im Weg. So wie Mariana unter dem Tuch hervorkroch, wie ein verlegener Hund, der sich unauffällig zum Zimmer hinausdrücken möchte, war es kein Wunder, dass der Graf rasend wurde. Birgit platzte vor Stolz. Zum erstenMal seit dem schrecklichen Tod ihres Mannes konnte sie wieder lachen.
Als Mariana nach ein paar Wochen die Mutter zum Zug brachte, ging es der schon viel besser. Das nächste Zusammensein war bereits geplant.
Inzwischen sang Mariana an fast allen großen europäischen Opernhäusern – in Spanien, Holland, Dänemark, in Frankreich, England, Portugal, in Deutschland, Österreich, Schweden allemal. Mariana freute sich jedes Mal, wenn die Mutter sie besuchen kam. Dann machten sie zusammen Ausflüge und erfuhren so etwas über die jeweilige Stadt und das Land. Wenn Mariana allein war, nahm sie sich dafür oft nicht die Zeit. Sie war auch froh, dass es jetzt jemanden gab, der ihre Stimme haargenau kannte, jede Veränderung hörte und darauf achtete, dass sich keine Unarten oder gar Fehler einschlichen. Selbst merkte man das längere Zeit nicht, und es gab wenige Menschen, die einen darauf hinwiesen.
Nur in Italien gelangte Mariana über Venedig nicht hinaus. Es war wie verhext: Da wurde verhandelt mit Mailand, Florenz und Rom, auf beiden Seiten bestand großes Interesse, doch immer kam etwas dazwischen, Krankheiten, Umbauten,
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