Im Schatten der Tosca
Abfahrtszeiten der Züge waren jetzt vollends aus den Fugen geraten. Einmal stand Mariana in Berlin auf dem Bahnsteig und beobachtete, wie ein für seine Verspätung berüchtigter Fernzug aus dem Osten schnaufend mit zehn Minuten Verspätung auf dem Nachbargleis einfuhr. »Na, was sagen Sie nun«, bemerkte sie erfreut zu einem Schaffner, der neben ihr stand: »Klasse, wa, fast uff de Minute«, meinte der. »Aber det is der Zuch von jestern.«
Viele Züge führten jetzt vorne und hinten ein auf einen flachen Waggon montiertes Flakgeschütz mit sich. Zunächst hatte sich Mariana vor diesen martialischen Zugbegleitern gefürchtet, aber dann gewöhnte sie sich daran und fand sie sogar beruhigend. Nur wenn sie an die mageren Buben in ihren schlotterigen Uniformen dachte, war ihr nicht wohl in ihrer Haut, sechzehn, siebzehn Jahre schätzte sie, Milchgesichter allesamt. Wie mochten die sich fühlen an ihren Geschützen, selbst ungeschützt wie auf dem Präsentierteller, und das bei Wind und Wetter. Mariana hortete Schokolade und Zigaretten für sie und steckte sie ihnen vor der Abfahrt in die Taschen.
Immer häufiger kam es vor, dass Mariana auf ihren nächtlichenReisen irgendwann darüber aufwachte, dass der Zug schon eine ganze Weile auf den Gleisen stillstand. Dann schaute sie kurz zum Fenster hinaus, und wenn es draußen finster war und nur die Sterne funkelten, schlief sie auf der Stelle tief und fest weiter. Einmal saß sie viele Stunden in dem wartenden Zug, inmitten vor Erschöpfung wie betäubt schlafender Reisegenossen, und starrte auf einen glutroten Feuerschein, der den ganzen Himmel entflammte, wie das brennende Walhalla in der ›Götterdämmerung‹. Er war noch lange nicht erloschen, als die Morgenröte erschien und ihn verblassen ließ. Es war Nürnberg, das diese Nacht in Schutt und Asche fiel.
Schlimme Zeiten. Und doch wurde an allen Opernhäusern unverdrossen weitergesungen. Wenn da nicht Pietro und die immer verwickelter werdenden Zustände in Italien gewesen wären, hätte Mariana sich vielleicht gar keine Sorgen gemacht, es war sonderbar genug, an was man sich als vielbeschäftigte, gesunde, nicht übertrieben ängstliche junge Frau und Künstlerin alles gewöhnte. Massimo war in Stockholm gut aufgehoben, Birgit musste gar nicht mehr warnen, Mariana fand jetzt selbst das Reisen zu gefährlich für ihn.
Bei den Salzburger Festspielen 1943 sang Mariana die Dorabella in ›Così fan tutte‹. Auch Astrid und Erna waren mit von der Partie, als Fiordiligi und Despina. Wie schon die Jahre zuvor, hatte das »Trio Infernal« ein gemütliches Haus außerhalb der Stadt gemietet, hoch oben auf grünen, kuhbestandenen Matten und groß genug für Kind und Kegel. Doch nur Pietro wurde noch zur Premiere erwartet, die anderen Hausgenossen blieben in diesem Jahr vorsichtshalber daheim.
Auch Jens Arne Holsteen – im vergangenen Jahr noch der Premierendirigent – war inzwischen nach Amerika verschwunden. Weniger aus politischen Skrupeln, wie zum Beispiel Marcello Rainardi – hatte er es doch verstanden, unter den braunen Machthabern seine Karriere zielstrebig voranzutreiben –,als vielmehr seiner momentanen Gattin zuliebe, einer milliardenschweren amerikanischen Südstaatlerin. Von ihr vor die Wahl gestellt: »Die Braunen oder ich«, brach er seine Zelte in Europa ab. Hier wie dort standen ihm alle Türen offen, dort jedoch wartete darüber hinaus ein luxuriöses Nest auf ihn. Wozu sich also das Leben unnötig schwer machen?
Die drei Freundinnen genossen die unvorhergesehene Dreisamkeit durchaus, wann schon konnten sie halbe Tage und Nächte ungestört zusammenhocken und in Erinnerungen schwelgen? Erna war inzwischen mit einem sympathischen Hünen aus einer uralten Stockholmer Verlegersippe verheiratet und hatte drei Kinder, zwei Töchter und das kleine Karlchen. Offenbar hatte sie es mit ihrem Holger ganz gut getroffen. Er war ein empfindsamer, eher scheuer, musischer Mensch, der Bücher liebte, nicht nur aus beruflichen Gründen, und manchmal mehrere Tage an einen einsamen Fjord zum Nachdenken und Fischen ging.
In den folgenden Jahren ersang sich Erna weltweit einen unangefochtenen Platz in der allerersten Sängerriege. Für bestimmte Rollen gab es eigentlich nur sie. Wenn sie der Kinder wegen vor ausgedehnten Tourneen zögerte, ermunterte sie Holger: »Du bist doch nicht dafür geschaffen, hier als Mutter und Hausfrau zu versauern. Kriegen kann ich die Kinder nicht für dich, aber auf sie aufpassen, das
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