Im Schatten der Vergeltung
dachte, wie wenig sie ein solches Verhalten gerade von einer Königin erwartet hätte. Charlotte Sophia stammte allerdings aus Deutschland, und Maureen hatte bereits davon gehört, dass sich die Deutschen weit weniger distinguiert als die Engländer verhielten. Es war ein interessantes und reizvolles Spiel, auf das Maureen sich einließ. Sie bezog als Lady Sybil St. Cleer eine Zimmerflucht mit vier elegant ausgestatteten Räumen im St. James Palast, erhielt eine eigene Zofe und wurde von Königin Charlotte in die höchsten Adelskreise eingeführt. Jetzt zahlte es sich aus, dass Maureen Philipp nur selten in die Stadt begleitet hatte, sonst wäre die Gefahr zu groß gewesen, jemanden zu treffen, der sie wiedererkennen könnte.
Jeder Tag präsentierte sich Maureen als neues, spannendes Abenteuer. Die größte Überraschung bereitete Königin Charlotte ihr jedoch, als Maureen dem Prince of Wales vorgestellt wurde. Bereits nach wenigen Tagen hatte der hagere, hoch gewachsene junge Mann mit den ungelenken Bewegungen einen Narren an Maureen gefressen. Prinz George zählte zwar beinahe zwanzig Jahre, wies in seinem Verhalten aber noch recht kindliche Eigenschaften auf, ausgenommen, wenn es ums andere Geschlecht ging. Gewöhnt, dass sich alles um sein Wohl und um seine Person drehte und dass ihm jeder Wunsch sofort erfüllt wurde, wirkte Prinz George wie ein großes, trotziges Kind. Seit vier Wochen speiste Maureen jeden Dienstag mit dem Thronfolger zu Abend. Sie selbst brauchte keine Befürchtung zu haben, vom Prinzen als Lustobjekt betrachtet zu werden, dazu war sie zu alt. Seine Liebschaften waren jung, sehr jung. Oft nicht älter als vierzehn oder fünfzehn Jahre. Maureen hingegen war zu einer Art mütterlichen Freundin für den Prinzen geworden.
So war Maureen innerhalb kurzer Zeit in einen Strudel der Ereignisse gezogen worden, der ihr kaum Luft zum Atmen ließ, der sie aber auch in ihrer Recherche über den Politiker Willard Foster keinen Schritt weiterbrachte. Trotzdem genoss sie das amüsante und abwechslungsreiche Leben als Lady Sybil St. Cleer am Hofe. Als ihr bewusst wurde, dass sie von Königin Charlotte als eine Art Erzieherin für den künftigen König von England eingesetzt wurde, fand sie dies sehr belustigend. Es scheint mein Schicksal zu sein, mich um anderer Leute Kinder zu kümmern, dachte sie in Erinnerung an Susan und Edmund und fragte sich, wie Louisas Leben sich jetzt wohl gestaltete. War ihre Genesung von Dauer gewesen? Vermissten die Kinder ihren Vater? Ob Edmund wohl irgendwann erfahren würde, unter welchen Umständen dieser gestorben war? Maureen schob die Gedanken beiseite, diese Familie hatte sie nicht mehr zu kümmern. Vor ihr lag eine andere Aufgabe, in die sie ihre ganze Kraft investieren musste.
M aureen ließ sich von der Zofe in ein mitternachtsblaues Kleid mit roséfarbenem Unterrock und Mieder helfen, dann frisierte Monja ihre Haare mit schnellen, geschickten Griffen zu einem Turm von Locken auf. Nur einzelnen Strähnen wurde es erlaubt, sich in Maureens Nacken spielerisch zu kräuseln.
Maureen war nervös. Überraschend hatte sie von Lady Weston die Einladung zu einem kleinen, intimen Dinner erhalten. Lady Weston, die Duchesse von Puyhardy, gehörte seit vielen Jahren zum engeren Umfeld der Königin. Maureen war der älteren Dame bisher nur einmal vorgestellt worden und hatte ein paar belanglose Worte mit ihr gewechselt. Maureen, mit den Sitten des Hoflebens binnen weniger Wochen gut vertraut, wusste, dass ein intimes Dinner gut und gerne zwei, drei Dutzend Gäste bedeuten konnte. Sie fand ihre Vermutung bestätigt, als sie am Abend ein livrierter Diener in das elegante Haus am Ufer der Themse führte. Zwei geöffnete Flügeltüren verbanden die Halle mit dem angrenzenden Salon, und überall standen Frauen und Männer unterschiedlichsten Alters in Gruppen zusammen. Maureen schluckte trocken. Sie konnte kein bekanntes Gesicht ausmachen, dann schweifte ihr Blick zum Kamin, und sie zuckte zusammen. Allein, mit einem Glas in der Hand, stand Willard Foster lässig an den Sims gelehnt. Bevor Maureen sich dem Studium seiner in schlichter Eleganz gehaltene Kleidung widmen konnte, eilte auch schon Lady Weston mit ausgestreckten Armen auf sie zu.
»Meine liebe Lady St. Cleer! Wie schön, Euch hier begrüßen zu dürfen. Die Königin spricht in höchsten Tönen über Euch und darüber, was Ihr binnen kurzer Zeit an positivem Einfluss auf den Prinzen gewonnen habt.«
Maureen knickste vor
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