Im Schatten der Vergeltung
streichen. Sie wusste, es war Wahnsinn, was sie hier tat, trotzdem konnte sie sich nicht von ihrem Kind lösen. Obwohl die Berührung nur kurz gewesen war, zuckte Frederica zusammen und Maureen zog schnell ihre Hand zurück. Das Mädchen öffnete die Augen und starrte mit ungläubigem Blick auf die Gestalt, die an ihrem Bett saß. Trotz der Männerkleidung erkannte Frederica ihre Mutter sofort. Maureen suchte nach beruhigenden Worten, damit Frederica keinen Schock erlitt, als sie plötzlich glücklich lächelte.
»Mama«, flüsterte sie. »Du bist endlich gekommen, mich zu holen.«
»Mein Mädchen ...« Über Maureens Wangen liefen Tränen, sie wischte sie nicht fort.
Mit unschuldigem Blick fuhr Frederica fort: »Ich habe wieder von dir geträumt. Du hast mir versprochen, du kommst bald zu mir. Und jetzt bist du da. Du bist doch kein Traum, oder?« Sie richtete sich auf, sofort bildeten sich Schweißperlen auf ihrer Stirn.
Nur mit Mühe widerstand Maureen dem Verlangen, das Mädchen in ihre Arme zu reißen und an ihre Brust zu drücken. Stattdessen flüsterte sie: »Erzähl mir von deinem Traum.«
»Er ist immer der Gleiche. Ich laufe über eine blühende Sommerwiese und bin sehr traurig, dann stehst du plötzlich vor mir, reichst mir deine Hand und sagst: ‚Ich warte auf dich, mein Kind! Bald, sehr bald schon, werden wir wieder vereint sein.’ Bisher bist du immer wieder gegangen, und hast mich allein gelassen, und das hat mich noch sehr viel trauriger gemacht. Jetzt bist du aber endlich bei mir.«
»Ach, Frederica.« Zögernd griff Maureen nach Fredericas Hand und drückte sie. »Du glaubst, du träumst immer noch?«
Energisch schüttelte Frederica den Kopf, ihre Locken flogen wild um ihr schmales Gesicht.
»Nein, es kann kein Traum sein, denn ich spüre die Wärme deiner Hand. Mama, ich weiß, ich bin wach. Das kann nur bedeuten, dass ich die trostlose irdische Welt verlassen habe.« Frederica hob die freie Hand und deutete auf Maureens Kopf. Sie lächelte erneut. »Du siehst lustig aus! Müssen wir im Himmel Perücken tragen?«, fragte sie. »Warum bist du wie ein Mann angezogen? Muss ich so etwas auch anziehen, wenn ich mit dir gehe?«
»Aber Kind, du bist nicht tot!«, stieß Maureen hervor. »Wie kannst du so etwas denken? Warum hast du eine solche Todessehnsucht in dir?«
Fredericas Gesicht verzog sich weinerlich.
»Was hält mich noch auf dieser Welt? Du bist tot, und der Mann, an dessen Seite ich glaubte, wieder ein Stück des Glücks finden zu können ...« Sie brach ab, eine Flut von Tränen benetzte ihr Gesicht. Maureen konnte sich nicht mehr zurückhalten und zog ihre Tochter in die Arme.
»Frederica, mein Kind! Mein geliebtes Mädchen, wie habe ich dich vermisst!«
Schockiert spürte sie, wie dünn Frederica war. Unter dem Nachthemd stachen deren Knochen spitz durchs Fleisch. Sanft schob Maureen das Mädchen von sich, obwohl sie ihre Tochter am liebsten niemals wieder losgelassen hätte.
»Du musst gesund werden, Frederica«, flüsterte sie dicht an ihrem Ohr. »Hörst du? Ich bin nicht hier, um dich mit mir zu nehmen, sondern damit du wieder gesund wirst. Du wirst geliebt, von so vielen Menschen geliebt, am meisten von deinem Vater.«
»Vater?« Nervös zupfte Frederica an einem Zipfel der Bettdecke. »Er ist völlig verändert, seit du fort bist. Er hat dich sehr geliebt und wird den Rest seines Lebens um dich trauern.«
»Das glaube ich nicht«, entfuhr es Maureen bitter, gleich darauf hatte sie sich wieder in der Gewalt. Sie streichelte Fredericas Hände, die sie fest umklammert hielt. »Hat dir dieser Mann viel bedeutet?«, fragte sie zögernd.
»Ich habe Cedric über alles geliebt«, antwortete Frederica schlicht.
»Und George?«
»Welcher George?«, fragte sie mit kindlichem Erstaunen.
»George Linnley. Vor unserer Abreise nach Schottland warst du fest entschlossen, ihn gegen alle Widerstände zu heiraten.«
Erfreut erkannte Maureen eine leichte Röte auf Fredericas Wangen. Das war ein Zeichen, dass sie nicht völlig an Körper und Seele erkrankt war.
»Ach ... George ... Das war doch nur eine dumme Mädchenschwärmerei. Er hat es verdient, so eine dumme Pute wie Pamela March zur Frau bekommen zu haben. Mama, du solltest Cedric Collingford sehen. Das ist ein richtiger Mann! Du kennst ihn übrigens.«
Cedric Collingford ist also sein Name, dachte Maureen erleichtert. Vorsichtig fragte sie weiter: »Mir sagt der Name nichts. Stammt er aus der Gegend?«
Frederica nickte.
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