Im Schatten der Vergeltung
ein scharfer Schmerz. Trenance Cove war so lange ihr Heim gewesen, ihr sicherer Hafen, in dem sie meinte, für immer ein Zuhause gefunden zu haben. Tausend Mal war sie unbeschwert und sorglos durch das Haus und den Park gegangen, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, in welch herrlicher Umgebung sie leben durfte. In der Ferne hörte sie das sanfte Rauschen des Meeres, und sie sehnte sich danach, die kleine Bucht aufzusuchen, Schuhe und Strümpfe auszuziehen und von allen Sogen befreit durch das kalte Wasser zu waten. Das konnte sie aber nicht riskieren, außerdem gab es in dem Haus etwas, das der Mittelpunkt ihrer ganzen Sehnsucht war.
Im Ostflügel öffnete sich eine Tür, und ein Mann trat heraus. Schnell verbarg Maureen sich hinter der hohen und dichten Rhododendrenhecke zu ihrer Linken.
»Jenkins«, flüsterte sie und presste beide Hände auf ihr pochendes Herz. Der gute, treue Butler diente also immer noch im Haus. Ungeduldig wartete Maureen, bis Jenkins in den Gärten verschwunden war, dann rückte sie sich die Perücke in die Stirn, zog zusätzlich den Hut bis über die Augen und ging langsam auf den Ostflügel zu. Sie hatte keine Wahl und musste das Risiko eingehen. Von dem Pächter, der das Torhaus bewohnte und erst nach Maureens Tod dort eingezogen war und sie daher nicht kannte, hatte Maureen erfahren, dass Philipp am Vormittag ausgeritten war und nicht vor dem Abend zurückerwartet wurde. Frederica war krank und musste das Bett hüten, auch das hatte sie von dem Pächter erfahren.
»Muss ein Fieber sein«, hatte er gesagt. »Man munkelt, dass die junge Lady dem Tod näher ist, als dem Leben.«
»War ein Arzt da?«, hatte Maureen gefragt.
»Aye, da kommt einer jeden Tag, ist gerade wieder weg, Sie haben ihn um wenige Minuten verpasst.«
Diese Nachricht hatte Maureen in zusätzliche Panik versetzt. Niemals hatte sie gewollt, dass ihre Tochter wegen der Auflösung ihrer Verlobung erkranken würde. Wenn sich ihr Verdacht bestätigte und Frederica mit einem anderen Mann als George Linnley verlobt gewesen war, dann hatte sie eine glückliche Beziehung zerstört. Maureen plagten so starke Schuldgefühle, die sie weder wegen Murdoch, Foster oder Linnley empfand. Die Männer hatten es nicht anderes verdient! Niemals jedoch hatte Maureen ihrer Tochter Leid zufügen wollen. Eine winzige Hoffnung bestand noch, dass es ihr gelingen könnte, die Trennung rückgängig zu machen und alles wieder ins Lot zu bringen, dazu musste sie aber wissen, wer der Mann war, dem Frederica ihr Herz geschenkt hatte.
Sie öffnete eine niedrige Pforte und trat in die Milchkammer. Ein säuerlicher Geruch stieg ihr in die Nase. Der Raum war schmal und mit den Steinfliesen und unverputzten Wänden sehr kühl. In der Mitte stand das Butterfass, an den Wänden waren rund ein Dutzend Milchkannen aufgereiht. Es hatte sich nichts verändert. Maureen schlich durch den Gang des Dienstbotentraktes. Sie passierte die große Küche, aus der murmelnde Stimmen an ihr Ohr drangen. Die Köchin buk vielleicht gerade Scones, die zur Teezeit ofenwarm auf den Tisch kamen. Maureen fragte sich, wer das Gebäck wohl essen würde, denn mit Besuch war wohl nicht zu rechnen, da Philipp ausgeritten war. Wahrscheinlich würden die süßen Brötchen vom Personal verspeist und die übriggebliebenen fortgeworfen werden. Fest presste Maureen die Kiefer aufeinander. Was hätte ihre Mutter dafür gegeben, täglich warme Scones auf dem Teller zu haben! Jahrelang hatte sie im Überfluss gelebt, und fast vergessen, wie es war, arm zu sein.
Ungesehen erreichte Maureen die Vorhalle, von der eine Tür in die große Eingangshalle und eine weitere zur Dienstbotentreppe führte. Sie entschloss sich für letztere und stieg entschlossen ein Stockwerk hinauf. Durch eine Tapetentür trat sie auf den langen Korridor, dessen Wände mit Portraits von längst verblichenen Familienmitgliedern geschmückt waren.
Eine Minute später stand sie am Bett ihrer schlafenden Tochter. Von ihren Gefühlen überwältigt, sank Maureen auf der Kante zusammen. Ihre Tochter! Ihr einziges Kind! Friedlich und ruhig lag sie auf der Seite, eine Flut von Haaren bedeckte ihren Nacken und die sanft gerundeten Schultern. Maureen erkannte aber den angespannten Ausdruck in Fredericas Gesicht, und ihre früher vollen und rosigen Wangen waren eingefallen und von einer ungesunden Blässe. Sie sah so unglaublich verletzlich aus.
Ein innerer Zwang trieb Maureen dazu, der Tochter leicht über den Kopf zu
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