Im Schatten der Vergeltung
flüsterte Maureen atemlos. »Ich habe seit Ewigkeiten nicht mehr getanzt.«
Alan drückte ihren Arm und sah sie auffordernd an.
»Das ist eine Schande! Ich bitte dich hiermit um den ersten Jig.«
»Jig?« Maureen schluckte. »Aber ich beherrsche keine schottischen Tänze.«
»Nein? Ich denke, du bist in Schottland geboren und aufgewachsen? Wie kommt es dann, dass du nicht das Grundsätzliche der alten Traditionen beherrscht?«
»Ich ...«, versuchte Maureen zu erklären. Im gleichen Moment setzte die Musik ein, und Alan zog sie einfach auf die Tanzfläche.
»Keine Sorge. Die Schritte sind einfach. Du musst dich nur mit der Musik treiben lassen.«
Es war wirklich ganz einfach. Alan war ein hervorragender Tänzer, an dessen Arm Maureen schnell ihre Scheu verlor. Drei Dudelsackbläser spielten ununterbrochen mit einer beneidenswerten Ausdauer.
»Ich wusste gar nicht, dass das Spiel der Dudelsäcke wieder erlaubt ist«, bemerkte Maureen atemlos und mit geröteten Wangen, als die Bläser nach einer halben Stunde eine Pause einlegten, um sich mit Whisky zu stärken.
Alan lächelte ein wenig bitter.
»Die Musik, die Tänze oder unsere Sprache sind natürlich offiziell immer noch verboten. In den letzten Jahren sind die Gesetze jedoch etwas gelockert worden. Solange wir die Musik nur zu unserer Unterhaltung und nicht für aufwieglerische Versammlungen nutzen, wird sie stillschweigend geduldet.«
Maureen erinnerte sich an ein Kindheitserlebnis, und ein Schatten fiel über ihr Gesicht.
»Habe ich etwas Falsches gesagt, Maureen?«
»Nein, ich musste nur gerade an etwas denken, was schon sehr lange zurückliegt. Ich war damals etwa drei oder vier Jahre alt. Meine Eltern waren bei einer Hochzeit von Bediensteten auf dem Nachbargut eingeladen. Plötzlich hörte ich ein lautes, kreischendes Geräusch. Ich wusste nicht, was es war und flüchtete an die Röcke meiner Mutter. Dann kam ein Mann, der mit seinem roten, langen Haar und dem struppigen Bart schrecklich furchterregend für mich war, mit einem Dudelsack. Zuvor hatte ich das Instrument weder gesehen noch gehört. Weinend verbarg ich mein Gesicht, denn die Töne klangen schrecklich in meinen Ohren. ‚So weit ist es gekommen, dass unsere Tochter Angst vor ihrer heimischen Musik hat’, schimpfte meine Mutter. ‚Eine Schande ist das!’
Sie verließ mit mir das Fest und erzählte mir, wie die Engländer die gälische Musik bei Androhung der Todesstrafe verboten hatten. Darum habe ich auch nie die Tänze gelernt.«
»Ich finde, du tanzt wunderbar! Nie zuvor hat mir der Jig so viel Spaß bereitet.«
»Du Schwindler!«, kicherte Maureen und schlug mit dem Fächer nach ihm.
Aus seinen braunen Augen sah Alan sie voller Verehrung und zugleich Begehren an, dass Maureen schnell ihren Blick abwandte. Wann hatte Philipp sie zum letzten Mal so angesehen? Ihr wurde bewusst, dass sie Philipp niemals wiedersehen würde, denn für ihn war sie tot. Nicht daran denken, nicht heute Abend!
»Der Tanz hat auch mir viel Spaß gemacht«, sagte sie betont fröhlich. » Es freut mich, wenn sich die strenge englische Hand gelockert hat. Man muss einem Volk auch die Chance zu einem Neubeginn geben.«
»Für beide Seiten waren die Jakobitenaufstände schwere Zeiten, Maureen«, antwortete Alan ernst. »Das liegt aber alles lange zurück, und wir wollen nicht darüber sprechen. Heute Abend sollst du dich amüsieren und deine Sorgen vergessen.«
»Wieso glaubst du, dass ich Sorgen habe?«, fragte Maureen. Er zuckte mit dem Schultern.
»Wenn die eigene Mutter krank ist und nicht mehr lange zu leben hat, muss das einen doch belasten, oder?«
»Natürlich.«
Erleichtert atmete Maureen aus und war froh, dass er das Thema der Aufstände nicht weiter verfolgte. Alan konnte nicht ahnen, wie sehr ihr Leben mit den vergangenen Ereignissen verbunden war. Alles, was damals geschehen war, hatte sie zu dem Punkt geführt, an dem sie heute war: Heimatlos und nach außen hin eine Witwe. Trotzdem gelang es Maureen für den Rest des Abends, den unseligen Brief, ihr eigenes Leid und das ihrer Mutter zu vergessen.
Erst als sie weit nach Mitternacht neben Alan in der Kutsche saß, kehrte die Erinnerung zurück, aber Maureen war nicht mehr traurig oder verzweifelt. Der schwere süße Wein hatte seinen Anteil dazu beigetragen, dass Maureen nicht länger an die Zukunft dachte, sondern im Augenblick lebte. Sie ließ es geschehen, dass Alan seinen Arm um ihre Schultern legte und sie an sich zog. Ihr Kopf
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