Im Schatten des Drachen
ein.
Dublin, 07. September 2007, vier Uhr morgens
„Hannes, endlich! Ich habe mir schon Sorgen um dich gemacht!“
Josefines Stimme am Telefon klang ehrlich aufgebracht und erleichtert zugleich. Sofort plagte mich das schlechte Gewissen. Außer ihr hatte ich niemanden über meine zweite Reise nach Irland unterrichtet, und dann auch noch versäumt, ihr meine neue Handynummer oder wenigstens meine Hotelanschrift zu hinterlassen. Oder hatte ich es absichtlich vergessen?
„Alles okay, Finchen, es geht mir gut. Speicher die Nummer in dein Handy, das ist jetzt meine neue.“
„Ist gut. Bist du in einem Hotel?“
Taktvollerweise ersparte sie mir weitere Sorgen- oder Missfallensbekundungen, die uns beide nicht weitergebracht hätten.
„Ja, im Staunton’s on the Green.“
“Oh“, kam es prompt von ihr, „das klingt aber sehr luxeriös!“
„Geht so“, wehrte ich ab und kam dann gleich auf den Punkt: „Finchen, was weißt du über Epilepsie?“
Ihr Erstaunen rauschte wortlos durch den Äther zu mir herüber, aber ich spürte förmlich, wie das Räderwerk in ihrem Kopf zu arbeiten begann.
„Hmm, ich hab da mal einiges drüber gelesen. Ich glaube, Epilepsie bedeutet im Deutschen soviel wie Fallsucht. Es gibt verschiedene Auslöser und Krankheitsbilder, da kann ich dir jetzt nicht so ganz genau etwas sagen. Was willst du denn konkret wissen?“
Ich zögerte. Wollte ich überhaupt etwas wissen? Und wie viel? Vielleicht war es am besten, am Anfang anzufangen.
„Naja, zum Beispiel, wie sie entsteht“, antwortete ich zaghaft.
„Also, irgendwie passiert da was im Gehirn. Eine Art Ungleichgewicht zwischen Erregung und Hemmung der Nerven. Aber genauer kann ich es dir echt nicht erklären, tut mir leid.“
Ich nickte verständnisvoll und -los zugleich. Ungleichgewicht zwischen Erregung und Hemmung, war das nicht das, was auch mit mir ständig passierte? Fast ohne dass ich es bemerkte, stahl sich die nächste Frage über meine Lippen.
„Ist es denn heilbar?“
Josefine überlegte kurz. „Hmm, ich glaube, das kommt drauf an.“
Typische Medizinerantwort!
„Einige Epilepsien treten im Kindesalter auf und verschwinden mit der Pubertät von allein. Im Großen und Ganzen lassen sie sich mit Medikamenten gut unter Kontrolle bringen, zumindest lässt sich die Anfallshäufigkeit verringern. Aber richtig heilbar? Das weiß ich nicht.“
Sie wartete eine Weile, ob ich von allein etwas sagen würde. Aber dann siegte ihre Neugier, und sie stellte die Frage, die unweigerlich kommen musste:
„Sag mal, warum willst du das eigentlich alles wissen?“
Ich beschloss, ihr die ganze Wahrheit zu sagen, so, wie sie mir damals die ganze Wahrheit gesagt hatte: offen, direkt und schonungslos.
„Weil ich hier einen jungen Mann kennengelernt und mich in ihn verliebt habe, ohne zu wissen, dass er Epileptiker ist. Er hatte gestern einen Anfall, und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich bin weggelaufen, Fine, und ich schäme mich maßlos dafür. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich ihm nicht beistehen konnte, und ich fühle mich so unendlich hilflos. Ich will wissen, womit ich es zu tun bekomme, wenn ich ...“
Hier stockte ich, weil mir erst jetzt bewusst wurde, was ich mir da gerade selbst eingestanden hatte: Ich hatte mich in Paul verliebt.
Das Echo dieses Satzes fühlte sich wider Erwarten gut in mir an, löste ein sehnsüchtiges Kribbeln aus. Etwas in mir sagte, dass es richtig war, und ich wollte in diesem Moment auch wirklich daran glauben - aber schon eine Sekunde später verkrampfte sich mein eben noch so freies Herz wieder zu einem harten Klumpen, Angst und Misstrauen vor mir selbst lähmten meine Zunge, und in meinen Ohren rauschten die Worte, die jemals wieder zu sagen ich mir vor fünf Jahren auf ewig verboten hatte: ich liebe ihn, ich liebe ihn, ich liebe Pau...
„Wenn du dich auf ihn einlässt?“ vervollständigte Finchen meinen Satz. Sie hatte die Situation sehr schnell begriffen, im Gegensatz zu mir, der dazu fast eine Woche gebraucht hatte und jetzt im Schweiße seines Angesichts dagegen ankämpfte, einfach Ja zu sagen.
„Hannes, ich glaube, für diese Überlegung ist es zu spät.“
Sie hatte keine Ahnung, welche Panik sie mit diesen Worten in mir auslöste. Zu spät. Zu spät für Entschuldigungen. Zu spät für Erklärungen. Zu spät, Worte zurückzunehmen, die niemals hätten ausgesprochen werden dürfen. Zu spät für ein Leben ohne eine Chance. In
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