Im Schatten des Drachen
du bald wieder zu uns, Onkel Annes?“
Ich fuhr mir mit der Hand über die Augen und log: „Bald, Miri, bald.“
„Morgen?“, kam es zurück.
Für Miri war jede Zeitspanne, die länger als bis zum nächsten Atemzug dauerte, eine Ewigkeit.
„Nächste Woche vielleicht“, log ich noch einmal, wohlwissend, dass sie keine Ahnung hatte, wann nächste Woche war.
„Bringst du dann auch deinen Freund mit?“
„Was?“
„Na, Mama hat gesagt, du hast jetzt einen Freund.“
„Das hat sie dir gesagt?“
„Nein, dem Papa. Aber ich hab’s genau gehört.“
Sie war ganz schön pfiffig für ihr Alter, merkte sich unglaublich viele Dinge, die sie eigentlich noch gar nicht verstand. Wann würde sie begreifen, dass Freund und Freund nicht dasselbe war? Insgeheim fürchtete ich mich vor diesem Tag des Verstehens, aber ich vertraute Josefine, und Miri kam sehr nach ihr, und deshalb musste es gut gehen.
Ich sprach wieder in den Hörer, um Selbstverständlichkeit in meiner Stimme bemüht.
„Ich weiß nicht, Miri, da muss ich den Paul erst mal fragen. Vielleicht überraschen wir dich ja, okay?!“
„Au ja! Das sag ich Papa! PAPA, Onkel Annes will ...“
Den Rest verstand ich nicht mehr, weil Miris Stimme sich in den Weiten der Wohnung verlor. Ich für meinen Teil war jetzt schon überrascht, wie selbstverständlich die Worte über meine Lippen geflossen waren. Als ob es wirklich nur eine einfache Frage war, die Paul zurück zu mir und vielleicht übers Wochenende nach Frankfurt bringen konnte! Miris unkomplizierte Art, die Welt zu sehen und zu verstehen, hatte meine Fantasie für einen Moment beflügelt, doch die Landung auf dem harten Boden der Unmöglichkeit brach mir fast wieder das Genick.
Schließlich war Josefine wieder am Apparat.
„Hannes? Tut mir leid, sie ist einfach rausgerannt.“
„Na wenigstens hat sie nicht aufgelegt!“
Einen Moment lang herrschte unsicheres Schweigen zwischen uns, dann kam sie zur Sache.
„Was ist passiert, Hannes? Wieso hast du so sehr geweint?“
Ich zögerte. Plötzlich kam die Angst zurück, alles noch einmal zu durchleben, erneut diese Verzweiflung und diesen Abscheu vor mir selbst zu empfinden. Schließlich entschied ich mich für die Kurzversion.
„Ich hab’s vermasselt.“
Ich konnte förmlich spüren, wie sie am anderen Ende der Leitung die Stirn in Falten legte, als sie fragte: „Was genau meinst du?“
Tja, was nur? Den Sex? Die Beziehung? Die Freundschaft? Ihn? Ich versuchte es noch einmal.
„Ich war mit ihm zusammen, aber es hat nicht funktioniert.“
„Ich verstehe. - Nein, eigentlich immer noch nicht. Wart ihr zusammen aus und hattet einen schlechten Abend, oder wart ihr miteinander im Bett und hattet schlechten Sex?“
Ich schluckte.
„Letzteres.“
Sie war so verdammt direkt, dass es manchmal schon wehtat. Aber ich kannte sie ihr ganzes Leben lang, und bisher hatte uns ihre klare, eindeutige Ausdrucksweise immer über die Klippen zwischen uns hinweggeholfen, wie hoch sie auch sein mochten.
Und deshalb erzählte ich ihr jetzt auch genau, was passiert war - oder eben nicht passiert war. Dabei stellte ich mir vor, ich wäre eine Fliege an der Zimmerdecke gewesen, die das Geschehen unter sich interessiert, aber unbeteiligt beobachtet hatte. Es tat gut, die Dinge aus der dritten Person zu erzählen, aus der Distanz eines Zuschauers, der weder bestimmen noch eingreifen konnte. Die Dinge waren gelaufen, und nun war es Zeit, ein Resümee daraus zu ziehen. Und da ich nur eine kleine Fliege an der Decke war, überließ ich das Josefine.
„Schöne Scheiße, Hannes.“
Ich hoffte sehr, dass Miri das jetzt nicht gehört hatte. Nach einer Weile fuhr sie fort.
„Hannes, was willst du eigentlich? Ich meine, für dich, für deine Zukunft? Okay, das mit dem Boy war ein wilder Exzess, den schenke ich dir. Aber seit ich mit fünfzehn die Männerpornos in deinem Zimmer gefunden habe, verleugnest du dich. Und seit fünf Jahren bekämpfst du dich. Du führst einen Guerillakrieg gegen dich selbst. Wie weit willst du das Spiel eigentlich treiben?“
Ich schwieg, weil ich einfach keine Antwort auf diese Fragen hatte. Josefine wusste das, denn sie fuhr nach einer kurzen Pause im gleichen, ruhigen Tonfall fort.
„Du weißt, dass du vor dir selbst davonläufst, Hannes, aber dein Schatten wird dich immer verfolgen, egal, wohin du rennst. Du wirst ihn auch niemals einholen, das weißt du auch. Es ist eine Frage des Standes, des Willens, was du daraus
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